Therapie der Sepsis – viel Kontroverses, wenig Evidenz


Dr. med. Peter Stiefelhagen,Hachenburg

Die Symptomatik ist unspezifisch, die Diagnosestellung deshalb oft verzögert, die Pathogenese komplex und noch nicht vollständig entschlüsselt, die Therapiemöglichkeiten sind begrenzt und die Prognose ist weiterhin sehr schlecht.

Die Rede ist von der Sepsis, an der etwa 75 000 Menschen jährlich in Deutschland versterben. Daraus ergibt sich: Jeder Patient mit Verdacht auf Sepsis ist ein Notfall, der möglichst rasch einer intensivmedizinischen Behandlung zugeführt werden muss. Dazu gehören initial eine Kreislaufstabilisierung durch Catecholamine, genauer gesagt Noradrenalin, jedoch nicht ohne entsprechende Volumenoptimierung. Ebenso wichtig ist eine möglichst rasche Antibiose. Dass dabei jede Minute zählt, zeigen die Ergebnisse einer bereits vor einigen Jahren durchgeführten amerikanischen Studie, in der der Einfluss des Zeitpunkts der ersten Antibiotika-Gabe auf die Überlebenschance bei Sepsis-Patienten geprüft wurde. Wurde das Antibiotikum in der ersten Stunde nach Auftreten der ersten Symptome gegeben, lag die Überlebenschance bei 80 %, und mit jeder weiteren Stunde verzögerter Antibiotika-Therapie nahm die Überlebenswahrscheinlichkeit um 10 % ab [Rivers E, et al. 2001]. Diese „Golden Hour“ als kritischer Zeitfaktor der Lebensrettung wird jedoch im klinischen Alltag nicht immer eingehalten, da die Symptome einer beginnenden Sepsis oft unspezifisch sind.

In den letzten Jahren wurden eine Reihe adjuvanter Therapiestrategien – aktiviertes Protein C, Hydrocortison, Immunglobuline, intensivierte Insulintherapie –
im Rahmen klinischer Studien untersucht. Einige dieser Therapiekonzepte konnten in Nachfolgestudien nicht das halten, was sie in einer ersten großen randomisierten kontrollierten Studie versprochen hatten. Dies gilt sowohl für Hydrocortison [Sprung CL, et al. 2008] als auch die intensivierte Insulintherapie [Brunkhorst FM, et al. 2008].

So ließ eine intensivierte Insulintherapie nicht nur keinen Vorteil in der Sterblichkeit und beim Organversagen erkennen, sondern zeigte vielmehr einen nachteiligen Effekt, nämlich ein erhöhtes Hypoglykämierisiko. Enttäuschend muss man feststellen: Es gibt zurzeit kein einziges Behandlungskonzept, für das eine Letalität-senkende Wirkung mit dem höchsten Evidenzgrad, nämlich zwei großen, randomisierten kontrollierten Studien, nachgewiesen wurde. Somit bleiben nur Metaanalysen, Fall-Kontroll-Studien, retrospektive Analysen und Expertenmeinungen, um daraus konkrete Handlungsempfehlungen für den klinischen Alltag abzuleiten.

Für die Immunglobulin-Therapie wurden in den letzten Jahren mehrere Metaanalysen erstellt, die jedoch durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, so dass die Qualität solcher Metaanalysen kritisch hinterfragt wurde. Nach der neuesten Metaanalyse, die nach Meinung der Autoren einen wesentlichen methodischen Fortschritt beinhalten soll und deshalb als „High-Quality RCT“ bezeichnet wird, dürften polyvalente Immunglobuline die Sterblichkeit bei Sepsis-Patienten signifikant verbessern, wobei ein positiver Trend von IgGAM gegenüber IgG gesehen wird [Kreymann KG, et al. 2007].

Auch die Frage, ob bei Sepsis-Patienten Hydroxyethylstärke (HES) das Risiko für ein Nierenversagen erhöht, wird leidenschaftlich kontrovers diskutiert, zumal dabei nicht nur wissenschaftliche, sondern auch kommerzielle Interessen tangiert sind. Auch hier ist die wissenschaftliche Datenlage uneinheitlich: Einerseits fehlt der wissenschaftliche Beweis, dass HES eine systematische nachteilige Wirkung auf die Nierenfunktion entfaltet und deshalb von Intensivstationen verbannt werden sollte, zum anderen ist eine potenzielle Beeinträchtigung der Nierenfunktion auch nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen, so dass es guten Gewissens unbegrenzt eingesetzt werden kann. Daraus ergibt sich als pragmatische Empfehlung eine Kombination einer kontinuierlichen kristalloiden Flüssigkeitszufuhr und HES in Bolusform, wobei HES-Präparate mit niedrigerer relativer Molekülmasse und geringem Substitutionsgrad bei einer maximalen Tagesdosis von 20 ml/kg Körpergewicht eingesetzt werden sollten. Bei manifestem Nierenversagen sind HES-Präparate jedoch streng kontraindiziert.

Wo die klassische Pharmakotherapie an ihre Grenzen stößt, entsteht Freiraum für unkonventionelle Therapieverfahren. So wurde im Rahmen einer klinischen Plazebo-kontrollierten Studie die Wirkung einer Musiktherapie bei zehn postoperativen maschinell beatmeten Patienten untersucht. Sie erhielten am ersten postoperativen Tag 15 Minuten nach Beendigung der Sedierung einen musikalischen „Cocktail“, bestehend aus acht langsamen Sätzen aus Mozart-Klaviersonaten über eine Stunde mittels Kopfhörer. Evaluiert wurden unterschiedliche Parameter wie Herzfrequenz, Blutdruck, Sedierungstiefe, EEG, Serum-Konzentrationen von Somatotropin, Adrenalin, Noradrenalin, DHEA (Dehydroepiandrosteron), ACTH (Adrenocorticotropes Hormon), Cortisol, Interleukin-6 und Prolactin. Dabei ergaben sich signifikante Unterschiede, das heißt, Mozart-Klänge führten zu einer Abnahme des Blutdrucks und des Sedierungsbedarfs und laborchemisch zu einem Anstieg von Somatotropin und DHAE und einem Abfall von Adrenalin und Interleukin-6 [Conrad C, et al. 2007]. Als Erklärung für diese Effekte vermuten die Autoren eine günstige Beeinflussung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse im Sinn einer Anti-Stress-Wirkung. Bleibt nur zu hoffen, dass eine solche „Ouvertüre für das Wachstumshormon“ bzw. „ein Requiem für Interleukin-6“ auch die Prognose quoad vitam verbessert. Doch was spricht dagegen, schon jetzt dieses sichere und nebenwirkungsfreie Therapieprinzip zu nutzen? Die Anschaffung von Kopfhörern müsste trotz aller Budgetzwänge doch noch möglich sein!

Quellen

Rivers E, Nguyen B, Havstad S, Ressler J, et al. Early goal-directed therapy in the treatment of severe sepsis and septic shock. N Engl J Med 2001;345:1368–77.

Sprung CL, Annane D, Keh D, Moreno R, et al. Hydrocortisone therapy for patients with septic shock. N Engl J Med 2008;358:111–24.

Brunkhorst FM, Engel C, Bloos F, Meier-Hellmann A, et al. Intensive insulin therapy and pentastarch resuscitation in severe sepsis. N Engl J Med 2008;358:125–39.

Kreymann KG, de Heer G, Nierhaus A, Kluge S. Use of polyclonal immunoglobulins as adjunctive therapy for sepsis or septic shock. Crit Care Med 2007;35:2677–85.

Conrad C, Niess H, Jauch KW, Bruns CJ, et al. Overture for growth hormone: requiem for interleukin-6? Crit Care Med 2007;35:2709–13.


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