Lipodystrophie als unerwünschte Arzneimittelwirkung?


Veröffentlicht am: 28.11.2019

Gerd Luippold, Tübingen

Bei einer 63-jährigen Patientin wurde vor einem Jahr die Spätform eines Diabetes mellitus Typ I festgestellt. Der Diagnose waren Symptome wie Polyurie und Polydipsie sowie ein Gewichtsverlust von 6 kg vorausgegangen. Die Patientin wird mit biphasischem Insulinaspart (NovoMix®, morgens 18 Einheiten und abends 10 Einheiten) eingestellt. Unter der Therapie bemerkt die Patientin an beiden Oberschenkeln eine Abnahme von subkutanem Fettgewebe im Bereich der Insulin-Injektionsstellen.

Könnten die Insulin-Injektionen für die Hautveränderungen verantwortlich sein?

Welche unerwünschten kutanen Wirkungen werden durch Insuline hervorgerufen?

Welche Medikamente können ein Lipodystrophie-Syndrom verursachen?

Lipoatrophie als Komplikation der Insulin-Therapie

Der Verlust von subkutanem Fettgewebe wird als Lipoatrophie bezeichnet. Es handelt sich um eine schmerzlose Hauteindellung ohne sichtbare Entzündungszeichen mit unveränderter Epidermis und geringer Induration. Die Lipoatrophie ist heutzutage eine seltene aber wichtige Komplikation der Insulin-Therapie. Früher trat die Lipoatrophie insbesondere in Zusammenhang mit der Verwendung von tierischen Insulinen häufig auf. Vor der Einführung von gereinigtem Humaninsulin betrug die Prävalenz der Insulin-induzierten Lipoatrophie 25 bis 55 %. Mit der Verwendung von hochgereinigten Insulinen ist die Zahl auf unter 10 % gesunken. Durch die Verwendung von rekombinanten Analoginsulinen sinkt die Prävalenz weiter, obwohl Einzelfälle von Patienten mit Lipoatrophie, die mit den neueren Präparaten behandelt wurden, publiziert sind [1]. Typischerweise treten die Hautveränderungen 6 bis 24 Monate nach dem Beginn einer Insulin-Therapie auf. Die Insulin-induzierte Lipoatrophie kommt bei jungen Patienten und Frauen gehäuft vor. Auch der seltene Wechsel der Injektionsstellen gilt als Risikofaktor. Die Hautveränderungen stellen für die Patienten ein kosmetisches Problem dar. Gleichzeitig wird durch die veränderte Insulin-Absorption in den lipoatrophischen Bereichen die Blutzuckereinstellung erschwert.

Im vorliegenden Fall ist von einer Insulin-induzierten Lipoatrophie auszugehen, da nur die Haut im Bereich der Insulin-Injektionsstellen betroffen ist und auch sonst kein Anhaltspunkt für andere Ursachen der Lipoatrophie vorliegt (z. B. HIV-Erkrankung, Dermatomyositis). Bei dem verwendeten biphasischen Insulinaspart handelt es sich um eine Mischung aus gelöstem Insulinaspart (30 %) und Insulinaspart-Protamin-Kristallen (70 %). Einzelberichte zu lipoatrophischen Hautveränderungen unter der Therapie mit biphasischem Insulinaspart sind bekannt [2].

Pathogenese

Die Pathogenese der Insulin-bedingten Lipoatrophie ist unklar. Lipolytische Eigenschaften der Bestandteile einzelner Insulin-Präparate und immunvermittelte Entzündungsreaktionen werden diskutiert [3]. Durch die Freisetzung von lysosomalen Enzymen wird die Lipoatrophie gefördert. Unterstützend für die Annahme eines Entzündungsgeschehens ist der Nachweis hoher Konzentrationen an zirkulierenden Anti-Insulin-Antikörpern mit der Ablagerung von Immunglobulinen, Komplement C3 und Fibrin im Bereich der lipoatrophischen Hautveränderungen.

Lipohypertrophie als Komplikation der Insulin-Therapie

Neben einer Lipoatrophie können Insuline eine Lipohypertrophie (Fettgewebsansammlung) verursachen. Die Lipohypertrophie ist durch weiche subkutane Knoten gekennzeichnet. Es handelt sich um eine Insulin-induzierte Fettzellhypertrophie. Die Lipohypertrophie wird gehäuft kurz nach Beginn einer Insulin-Therapie, bei jungen Patienten, niedrigem Körpergewicht und bei abdominaler Insulin-Injektion beobachtet. Auch der seltene Wechsel der Injektionsstellen gilt als Risikofaktor, wird aber von den Patienten gerne praktiziert, da durch die Hautveränderung eine gewisse Schmerzunempfindlichkeit des Gewebes besteht.

Allergische Reaktionen als Komplikation der Insulin-Therapie

Vor 20 Jahren war das Auftreten einer weiteren kutanen Nebenwirkung der Insuline, der allergischen Reaktion, häufig. Durch die Verwendung von unvollständig gereinigten Insulinen traten bei 50 % der Patienten die typischen Symptome wie Erytheme, Pruritus und Indurationen auf. Heute werden durch die Einführung der rekombinanten Insuline die lokalen allergischen Reaktionen selten beobachtet (< 3 % der Patienten). Noch seltener kommen systemische allergische Reaktionen, wie Urtikaria mit Juckreiz, angioneurotische Ödeme oder Schockzustände (< 0,01 % der Patienten) vor [4].

Maßnahmen bei Lipodystrophie

Werden Hautveränderungen wie eine Lipoatrophie oder -hypertrophie unter der Therapie mit Insulinen beobachtet, ist es wichtig, die Injektionsstellen häufiger zu variieren. Außerdem kann die Umstellung auf andere Insulin-Präparate oder die kontinuierliche subkutane Insulin-Infusion mit Pumpe (geringe Insulin-Konzentrationen, kurze Halbwertszeit) hilfreich sein. In Einzelfällen wurden bei lipoatrophischen Hautveränderungen durch Injektion von Dexamethason in die betroffenen Hautbereiche positive Effekte erzielt.

Der Ersatz von Fettgewebe durch autologe Fetttransplantation wird bei anderen Formen der Lipoatrophie (z. B. HIV-Therapie-induzierte Lipoatrophie) praktiziert. Gute kosmetische Ergebnisse werden bei der schweren durch Insuline hervorgerufenen Lipohypertrophie mit der Methode der Liposuktion (Fettabsaugung) erreicht.

Lipodystrophie-Syndrom als Komplikation der HIV-Therapie

Das Lipodystrophie-Syndrom ist eine häufige Nebenwirkung der antiretroviralen Therapie bei einer HIV-Erkrankung. Vieles deutet auf eine multifaktorielle Genese hin, in der sowohl die HIV-Infektion, die antiretrovirale Therapie als auch patienteneigene Faktoren eine Rolle spielen. Klinisch imponiert der Verlust von subkutanem Fettgewebe, vor allem im Gesicht (periorbital, bukkal, temporal), am Gesäß und an den Extremitäten. Der subkutane Fettverlust kann isoliert oder zusammen mit einer Akkumulation von viszeralem Fettgewebe auftreten. Zusammen mit den körperlichen Symptomen treten häufig komplexe metabolische Veränderungen auf. Dazu gehören periphere und hepatische Insulin-Resistenz, Glucosetoleranzstörungen, Diabetes mellitus, Hypertriglyzeridämie, Hypercholesterolämie, erhöhte freie Fettsäuren und eine niedrige HDL-Konzentration [5]. Diätetische Maßnahmen werden allgemein als erste Therapieoption der Hyperlipidämie empfohlen (v. a. bei Hypertriglyzeridämie). Das Lipodystrophie-Syndrom kann bei allen antiretroviralen Wirkstoffen auftreten. Bei der Therapie mit nucleosidischen Reverse-Transcriptase-Hemmern (NRTI) dominiert der periphere, subkutane Fettverlust, während die Protease-Inhibitoren als eine bedeutende Ursache für die metabolischen Nebenwirkungen angesehen werden. Es liegt nahe, die einzelnen Wirkstoffe gegen alternative antiretrovirale Medikamente auszutauschen. Der klinische Nutzen einer lipidsenkenden (z. B. CSE-Hemmer) oder Insulin-sensitivierenden Therapie (z. B. Thiazolidindione) für Patienten mit HIV-assoziierter Lipodystrophie ist aufgrund der derzeitigen Studienlage nicht belegt.

Zusammenfassung

Das Lipodystrophie-Syndrom ist eine häufige Nebenwirkung der antiretroviralen Therapie. Es beinhaltet klinische und metabolische Veränderungen. Eine Insulin-induzierte Lipodystrophie ist seit der Einführung von rekombinanten Humaninsulinen und Analoginsulinen eine seltene Komplikation der subkutanen Insulin-Therapie. Trotzdem werden in Einzelfällen diese kutanen Nebenwirkungen beobachtet. Zum einen stellen die Lipodystrophien ein kosmetisches Problem dar, zum anderen kann die Insulin-Absorption in diesen betroffenen Hautbereichen verändert sein.

Literatur

1. Murao S, Hirata K, Ishida T, et al. Lipoatrophy induced by recombinant human insulin injection. Intern Med 1998;37:1031–3.

2. Hussein SF, Siddique H, Coates P, Green J. Lipoatrophy is a thing of the past, or is it? Diabet Med 2007;24:1470–2.

3. Reeves WG, Tattersall RB. Insulin induced lipoatrophy: evidence for an immune pathogenesis. Br Med J 1980;280:1500–3.

4. Richardson T, Kerr D. Skin-related complications of insulin therapy. Am J Clin Dermatol 2003;4:661–7.

5. Carr A, Samaras K, Burton S, et al. A syndrome of peripheral lipodystrophy, hyperlipidaemia and insulin resistance in patients receiving HIV protease inhibitors. AIDS 1998;12:F51–8.

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Können Arzneimittel zu Lipodystrophie führen?

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Ja, Lipodystrophien können als unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei der subkutanen Insulin-Therapie und der antiretroviralen Therapie auftreten.

Das Lipodystrophie-Syndrom ist eine häufige Nebenwirkung der antiretroviralen Therapie. Es beinhaltet klinische und metabolische Veränderungen.

Eine Insulin-induzierte Lipodystrophie ist seit der Einführung von rekombinanten Humaninsulinen und Analoginsulinen eine seltene Komplikation der subkutanen Insulin-Therapie. Trotzdem werden in Einzelfällen diese kutanen Nebenwirkungen beobachtet. Sie stellen zum einen ein kosmetisches Problem dar, zum anderen kann die Insulin-Absorption in diesen betroffenen Hautbereichen verändert sein.

Prof. Dr. med. Gerd Luippold, Medizinische Fakultät, Universität Tübingen,
E-Mail: gerd.luippold@uni-tuebingen.de

Arzneimitteltherapie 2008; 26(06)