Silke Reddersen, Patty Hirsch, Eric Stricker, Jörg Zieger und Marcus Rall, Tübingen
Der Fall
Ein Patient auf Intensivstation entwickelte noch während der Nachtschicht in den frühen Morgenstunden eine tachykarde Rhythmusstörung. Der hinzugerufene Arzt gab an die Pflegekraft die mündliche Anordnung, vorsichtig einen Betablocker zu spritzen. Auf die Frage der Pflegekraft, ob sie Beloc® (Metoprolol, Betablocker) spritzen solle, antwortete der Arzt, dass dieses unter Umständen zu lange wirken könnte und sie lieber Esmolol (Brevibloc®, ultrakurzwirksamer Betablocker) nehmen solle, aber vorsichtig und titriert. Gleich anschließend musste sich der Arzt um einen anderen Patienten kümmern und wurde nach etwa 5 Minuten von diesem weggerufen, weil es dem Patienten, der die Rhythmusstörung entwickelt hatte, nicht gut ginge. Es fiel auf, dass die Herzfrequenz noch höher war und der Patient mit großen, ängstlichen Augen im Bett lag und nach Luft schnappte. Die Frage nach Atemnot wurde bejaht. Es stellt sich heraus, dass der Patient nicht Esmolol, sondern Esmeron® (Rocuronium, ein mittellang wirksames Muskelrelaxans) bekommen hatte. Es wurde umgehend eine Intubationsnarkose zur Sicherung der Atemwege und Bewusstseinsausschaltung des versehentlich wach relaxierten Patienten eingeleitet.
Mögliche Ursachen und Begleitfaktoren
Aufgrund einer hohen Arbeitsbelastung (Betreuung mehrerer schwerkranker Patienten durch einen Arzt) wurde darauf verzichtet, die Anordnung schriftlich festzulegen, diese wurde nur mündlich getroffen. Zusätzlich wurden dabei Handels- und Wirkstoffnamen in einer Anordnung verwendet. Von der Pflegekraft wurde die Anordnung nicht noch einmal wiederholt (Kommunikationsschleife nicht geschlossen), so dass dem Arzt die Verwechslung nicht aufgefallen ist und er davon ausging, dass die Pflegekraft sein mentales Modell teilte und einen Betablocker spritzen würde.
Mögliche Ursachen hierfür könnten sein: Es handelt sich um ein akustisches Missverständnis, die Pflegekraft hat die Anordnung akustisch nicht verstanden. Dazu müsste man aber davon ausgehen, dass der Pflegekraft die Wirkungsweise von Esmeron® nicht bekannt war und Esmeron® für einen Betablocker gehalten wurde, was eine weitere Ursache für die Entstehung dieses Zwischenfalls sein könnte. Hinzu kommt, dass das Arbeiten während der Nacht und besonders in den frühen Morgenstunden zum Ende der Schicht oder des Dienstes mit einem größeren Risiko für Fehler verbunden ist und man deshalb besonders sicher arbeiten sollte, zum Teil aber einfach „zu müde“ dazu ist (Abb. 1).
Positiv war: Nachdem klar wurde, dass nicht das richtige Medikament verabreicht worden war, wurde sofort der Arzt informiert. So konnte umgehend eine Narkose eingeleitet und der Patient sediert und beatmet werden, bis die Wirkung des Muskelrelaxans nachließ.
Gedanken zu Analyse und Präventionsmöglichkeiten
Aspekte Mensch (M) – Technik (T) – Organisation (O)
M: Fehlende geschlossene Kommunikationsschleife, Müdigkeit, eventuell fehlendes gemeinsames mentales Modell
T: Für fast jedes Medikament gibt es einen Wirkstoff und einen Handelsnamen
O: Hohe Arbeitsbelastung, Zeitdruck, Nachtarbeit, keine schriftliche Anordnung
Die Verabreichung einer falschen Medikation ist häufig die Ursache für unvorhergesehene Zwischenfälle im Krankenhaus. Das Institute of Medicine schätzt, dass in den USA jährlich 1,5 Mio. vermeidbare unerwünschte Medikamentenreaktionen auftreten (umgerechnet wären dies pro Tag 4 106 Medikamentenreaktionen) [1]. Kopp et al. [2] fanden bei einer Beobachtungsstudie auf internistischen und chirurgischen Intensivstationen, dass es bei jeder fünften Medikamentenapplikation zu einem Medikationsfehler kommt. Alle diese Fehler wären vermeidbar gewesen. Die meisten Fehler konnten auf vergessene Applikation, falsche Dosis, falsches Medikament, falsche Technik oder Medikamenteninteraktionen zurückgeführt werden.
Bates et al. [3] konnten in einer Studie, in der Medikamentenfehler anhand von Berichtssystemen untersucht wurden, zeigen, dass es zu 0,3 Medikamentenfehlern pro Patiententag kommt, das entspricht 5,3 Fehlern pro 100 Anordnungen. Nur bei 5 der 530 (also ungefähr 1 %) identifizierten Medikamentenfehler kam es zu unerwünschten Wirkungen, die vermeidbar gewesen wären. Das heißt, Medikamentenfehler sind häufig, nur ein geringer Anteil führt zu unerwünschten Wirkungen, die aber wiederum in aller Regel vermeidbar wären.
In dem vorliegenden Fall spielen verschiedene Faktoren bei der Entstehung des Medikamentenfehlers eine Rolle. Der Zwischenfall spielte sich während der frühen Morgenstunden ab, zu einer Zeit, die per se fehlerträchtiger ist als andere Tageszeiten [4, 5], so dass sicher auch Kommunikationsprobleme häufiger auftreten. Zu einer anderen Tageszeit, zu der man aufmerksamer und aufnahmefähiger ist, wäre es vielleicht nicht zu einer Verwechslung gekommen.
Auf Intensivstationen herrscht häufig eine hohe Arbeitsbelastung, so dass der Arzt oft gezwungen ist, Prioritäten festzulegen und bei dem Patienten zu bleiben, dem es im Moment am schlechtesten geht und für die anderen mündliche oder schriftliche Anordnungen zu treffen. In dem vorliegenden Fall konnte der Arzt nicht am Bett des tachykarden Patienten stehen bleiben und über mehrere Minuten den Betablocker selbst titrieren und den Wirkungseintritt abwarten. Auch hier wurde (vermutlich, um Zeit zu sparen) von bewährten Standards abgewichen, indem die Anordnung mündlich statt schriftlich festgelegt wurde. Hinzu kommt, dass nachts für gewöhnlich kein Oberarzt direkt verfügbar ist, weniger Personal im Einsatz ist und mehr Verantwortung auf dem Stationsarzt lastet (tagsüber würde man möglicherweise den Oberarzt befragen, den man aber nachts wegen vermeintlich trivialer Fragen nicht wecken möchte). Trotz erhöhter Arbeitsbelastung während der Nacht und Müdigkeit muss der Arzt versuchen, den Überblick zu behalten.
Hinzu kommt, dass die Pflegekräfte die erhöhte Arbeitsbelastung des Arztes spüren und vielleicht manche Fragen nicht stellen, um den ohnehin sehr beanspruchten Stationsarzt nicht noch zusätzlich zu „nerven“.
In diesem Fall ist besonders beeindruckend, dass – wenn man davon ausgeht, dass der Pflegekraft bekannt war, dass es sich bei Esmeron® um ein Muskelrelaxans und nicht um einen Betablocker handelte – die Verwechslung im Prinzip vier Mal stattgefunden hat. Zum ersten Mal als das Esmeron® aus dem Kühlschrank genommen wurde (Esmolol muss nicht gekühlt aufbewahrt werden), zum zweiten Mal als das Medikament aufgezogen wurde (dabei sollte die Ampulle ja eigentlich auch noch mal auf Richtigkeit und Verfallsdatum überprüft werden) und zum dritten Mal bei der Injektion des Medikaments und zum vierten Mal bei der Dokumentation dessen, was gegeben wurde.
Ein Problem, das in Deutschland vielerorts leider immer noch vorherrscht, ist die Verhinderung guter Teaminteraktion wegen bestehender hierarchischer Strukturen. Dies kann ein Problem zwischen zwei Personen sein, wenn der Arzt als eine Person empfunden wird, der man nicht widersprechen darf. Zum Teil sind die Pflegekräfte auch noch in dem althergebrachten Denken verwurzelt, dass „der Arzt“ schon wissen werde, was er tue, schließlich habe er ja studiert. Im Sinn des Patienten ist aber zu fordern, dass auch ein in der Hierarchie niedriger stehendes Teammitglied seine Bedenken äußern darf und muss (was mit dem Fachterminus „Assertiveness“ bezeichnet wird).
Ein ganz wichtiger Faktor in diesem Fall ist die Kommunikation. Es wurden Handels- und Wirkstoffnamen in einer Anordnung gemischt. Erschwerend kommt hinzu, dass dem Pflegepersonal oft die Bezeichnung der Wirkstoffe eines Medikaments nicht bekannt ist. In jedem Fall ist eine geschlossene Kommunikationsschleife (Closed-loop-Kommunikation) zu fordern.
In Abbildung 2 ist eine Kommunikationstreppe dargestellt, deren Einhaltung die Entstehung eines Zwischenfalls aufgrund mangelhafter Kommunikation verhindern soll. Der vorgestellte Zwischenfall könnte auf verschiedenen Stufen dieser Treppe entstanden sein:
- „Gesagt ist nicht gehört“: Hat die Pflegekraft wirklich gehört, was der Arzt gesagt hat?
- „Gehört ist nicht verstanden“: Hat die Pflegekraft verstanden, was der Arzt meinte, das heißt, hatten beide ein gemeinsames mentales Modell (in diesem Fall: Betablocker gegen Tachykardie)?
- „Verstanden ist nicht gemacht“: Hat die Pflegekraft, nachdem sie korrekt verstanden hat, dass Esmolol verabreicht werden soll, auch wirklich Esmolol geholt und verabreicht?
Außerdem fehlte im Sinn einer geschlossenen Kommunikationsschleife die Bestätigung der Anordnung. Hätte die Pflegekraft die Anordnung nochmals wiederholt, wäre vielleicht sofort aufgefallen, dass hier ein Missverständnis vorliegen muss. Außerdem hilft es aus unserer Erfahrung immer, gemeinsame mentale Modelle zu schaffen, also zum Beispiel zu sagen: „Wegen der Tachykardie geben wir ...“.
Natürlich kann man sich auch fragen, warum es für einen Wirkstoff viele verschiedene Handelsnamen geben muss. Würden alle Ampullen und Tabletten mit dem Wirkstoff anstelle eines erfundenen Namens gekennzeichnet werden, würden vermutlich weniger Medikamentenverwechslungen vorkommen.
Schlussfolgerungen
Medikamentenanordnungen sollten schriftlich, idealerweise computergestützt, getroffen werden, so dass Verwechslungen möglichst ausgeschlossen werden. Ist dies nicht möglich, ist eine geschlossene Kommunikationsschleife zu fordern. In der Anordnung sollte die vollständige Bezeichnung des Medikaments genannt werden, die Applikationsform, die Dosis mit Einheit (mg, ml, ...) und der Patientenname. Wünschenswert wäre, ein gemeinsames mentales Modell mit allen Beteiligten herzustellen und damit den Grund der Verordnung transparent zu machen.
Literatur
1. Institute of Medicine. Preventing medication errors: Quality chasm series. Washington DC: National Academies Press, 2007.
2. Kopp BJ, Erstad BL, Allen ME, Theodorou AA, et al. Medication errors and adverse drug events in an intensive care unit. Direct observation approach for detection. Crit Care Med 2006;34:415–25.
3. Bates DW, Boyle DL, Vander Vliet MB, Schneider J, et al. Relationship between medication errors and adverse drug events. J Gen Intern Med 1995;10:199–205.
4. Hendey GW, Barth BE, Soliz T. Overnight and postcall errors in medication errors. Acad Emerg Med 2005;12:629–34.
5. Dembe AE, Erickson JB, Delbos RG, Banks SM. Nonstandard shift schedules and the risk of job-related injuries. Scand J Work Environ Health 2006;32:232–40.
Fallberichte und Wissenswertes zur Arzneimitteltherapie aus den Incident Reporting Systemen PaSIS und PaSOS
Herausgegeben von Marcus Rall, Jörg Zieger, Eric Stricker, Silke Reddersen, Patty Hirsch, Peter Dieckmann
Tübinger Patienten-Sicherheits- und Simulationszentrum (TüPASS)
Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Tübingen
www.tupass.de
Patienten-Sicherheits-Informations-System www.pasis.de
Patienten-Sicherheits-Optimierungs-System von DGAI/BDA www.pasos-ains.de
E-Mail: marcus.rall@med.uni-tuebingen.de
Die Fallberichte sind den Incident Reporting Systemen PaSIS (www.pasis.de) oder PaSOS (www.pasos-ains.de) entnommen. Die Fälle werden nicht in der Form wiedergegeben, in der die Originalmeldungen eingingen. Für diese Serie werden die anonymisierten Fallberichte zusammengefasst und moderiert. Das bedeutet, dass im Hinblick auf ein besseres Verständnis einzelne Informationen weggelassen oder hinzugefügt werden und die Fälle daher vom Originalbericht abweichen können. Auch die Gedanken zur Analyse können nicht erschöpfend sein und müssen zum Teil spekulativ bleiben. Das Ziel dieser Fallvorstellungen ist die Sensibilisierung für mögliche Gefahren im Umgang mit Medikamenten und die Vorstellung von Vorschlägen, welche die Gefahren oder deren Schädigungspotenzial reduzieren können. Alle Vorschläge müssen von jedem Anwender entsprechend kritisch überprüft werden. Über Anregungen, Kritik und anderes Feedback freuen sich die Herausgeber jederzeit.
Dr. med. Silke Reddersen, Patty Hirsch, Dipl.-Ing. (FH), Eric Stricker MSc, Dr. med. Jörg Zieger, Dr. med. Marcus Rall, Tübinger Patienten-Sicherheits- und Simulationszentrum (TüPASS), Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Tübingen, www.tupass.de, Patienten-Sicherheits-Informations-System, www.pasis.de, www.pasos-ains.de, Silcherstraße 7, 72076 Tübingen,
E-Mail: silke.reddersen@med.uni-tuebingen.de

Abb. 1. Ursachen und Begleitfaktoren, die zur Medikamentenverwechslung, das heißt zur Injektion des Muskelrelaxans Esmeron® statt des Betablockers Esmolol, geführt haben (Fishbone-Diagramm, nach Ishikawa)

Abb. 2. Kommunikationstreppe: Sender und Empfänger sollten die verschiedenen Stufen stets im Hinterkopf behalten und auf eine geschlossene Kommunikationsschleife achten, um Kommunikationsprobleme zu vermeiden und sicher zu gehen, dass der Empfänger das „Gesagte“ verstanden hat. Auf diese Weise kann das Risiko für Medikamentenfehler reduziert werden.
Arzneimitteltherapie 2008; 26(06)