Akutes Atemnotsyndrom

Behandlungserfolg mit Glucocorticoiden bei ARDS nicht überzeugend


Dr. Monika Neubeck, Kaiserslautern

Die präventive Anwendung von Glucocorticoiden führte bei stark ARDS-gefährdeten Patienten zu einem schlechteren Krankheitsverlauf mit häufigerer ARDS-Inzidenz und Mortalität, so die Erkenntnisse einer Metaanalyse. Bei therapeutischer Behandlung des bereits manifestierten Krankheitsbilds waren Mortalität und die Notwendigkeit zur künstlichen Beatmung im Vergleich zu Plazebo geringfügig reduziert. Der Stellenwert einer Glucocorticoid-Therapie bei ARDS konnte jedoch nicht festgelegt werden.

Das akute Atemnotsyndrom (acute respiratory distress syndrom = ARDS) wird durch direkte oder indirekte Verletzung der Lunge (z. B. Aspiration, Pneumonie, Sepsis) ausgelöst. Die betroffenen Patienten sind aufgrund wiederkehrender Lebensbedrohung physisch und psychisch stark belastet und müssen häufig künstlich beatmet werden. Eine effektive kausale Therapie steht derzeit nicht zur Verfügung. Die Gabe von Glucocorticoiden wird unterschiedlich beurteilt. Befürworter postulieren einen positiven Effekt auf die meist mit ARDS einhergehende chronische Entzündung des verletzten Lungengewebes. Die wenigen klinischen Studien zur Anwendung von Glucocorticoiden bei diesem Krankheitsbild kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Durch eine Metaanalyse sollten Wirksamkeit und Verträglichkeit von Glucocorticoiden nach präventiver oder therapeutischer Gabe bei ARDS zusammenfassend eingeschätzt werden.

Studiendesign

Zwei unabhängige Gutachter wählten unabhängig voneinander die Studien für die Metaanalyse aus. Neun randomisierte kontrollierte Studien aus den Jahren 1966 bis 2007 mit rund 1000 erwachsenen Patienten wurden in die Metaanalyse einbezogen. Vier davon waren Studien zur präventiven Gabe von Glucocorticoiden bei stark ARDS-gefährdeten Patienten, in fünf Studien wurde die Glucocorticoid-Gabe bei Patienten mit ARDS untersucht. Die Tagesdosis lag im Bereich von 1 bis 120 mg/kg Methylprednisolon bzw. äquivalenten Mengen an Hydrocortison oder Dexamethason über eine Anwendungsdauer zwischen 4 Stunden und 30 Tagen.

Primäre Endpunkte waren Tod während des stationären Aufenthalts oder Überleben bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus. Sekundäre Endpunkte waren beispielsweise die ARDS-Häufigkeit bei kritisch kranken Patienten nach Glucocorticoid-Behandlung, die Anzahl der Tage ohne künstliche Beatmung innerhalb von 28 Tagen nach Einsetzen eines ARDS sowie die Anzahl der Patienten, die neue Infektionen oder eine Pneumonie bekamen.

In der Metaanalyse wurde der Bayesianische Ansatz angewendet [Arzneimitteltherapie 2008;26:464–5].

Ergebnisse

Die präventive Gabe von Glucocorticoiden wurde mit einer erhöhten ARDS-Inzidenz in Verbindung gebracht, die ermittelte Wahrscheinlichkeit für den Zusammenhang zwischen der Glucocorticoid-Gabe und der Entwicklung eines ARDS betrug 86,6% (P [Odds-Ratio ≥1]; Odds-Ratio 1,55; 95% credible interval, d. h. Bereich, in dem mögliche Werte liegen können, 0,58–4,05) (Tab. 1).

Tab. 1. Primäre und sekundäre Endpunkte nach vergleichender Einnahme von Glucocorticoiden und Plazebo für die präventive bzw. therapeutische Gabe bei Erwachsenen mit akutem Atemnotsyndrom (ARDS = acute respiratory distress syndrome)

Endpunkt

Studien
[n]

Odds-Ratio
(95% credible interval)

P [Odds-Ratio ≥1] [%]

SD

Entwicklung von ARDS

4

1,55 (0,58–4,05)

86,6

0,58

Mortalität

Therapeutische Gabe

5

0,62 (0,23–1,26)

6,8

0,53

Präventive Gabe

3

1,52 (0,30–5,94)

72,8

0,97

Neuinfektionen

Therapeutische Gabe

5

0,78 (0,41–1,69)

20,9

0,37

Präventive Gabe

2

1,18 (0,19–5,99)

59,6

0,88

Pneumonie (therapeutische Glucocorticoid-Gabe)

4

0,59 (0,14–2,82)

23,1

1,34

95% credible interval: glaubwürdiger Parameterbereich; schließt der Bereich die 1 ein, so kann ein Nulleffekt nicht ausgeschlossen werden SD: standard deviation als Maß für die Heterogenität der Studien; Wert nahe 0 = geringe Heterogenität, Wert > 1 = deutliche Heterogenität P [Odds-Ratio ≥1] ≤ 10%: große Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang zwischen der Glucocorticoid-Gabe und einem günstigen Behandlungseffekt, wie reduzierte Mortalität, reduziertes ARDS-Risiko und reduziertes Infektionsrisiko P [Odds-Ratio ≥1] ≥ 90%: große Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang zwischen der Glucocorticoid-Gabe und einem ungünstigen Behandlungseffekt, wie erhöhte Mortalität, erhöhtes ARDS-Risiko und erhöhtes Infektionsrisiko, bei P [Odds-Ratio ≥1] P[Odds-Ratio]

Ebenso hatten Patienten, die in der Folge ein ARDS entwickelten, ein erhöhtes Mortalitätsrisiko: Die ermittelte Wahrscheinlichkeit betrug 72,8% (P [Odds-Ratio ≥1]; Odds-Ratio 1,52; 95% credible interval 0,30–5,94) (Tab. 1).

Bei bereits manifestem Krankheitsbild zeigte sich ein Trend zu reduzierter Mortalität durch die Glucocorticoid-Therapie (P [Odds-Ratio ≥1] 6,8%; Odds-Ratio 0,62; 95% credible interval 0,23–1,26) (Tab. 1). Die Zahl der Tage ohne künstliche Beatmung stieg verglichen mit Plazebo (mittlere Differenz 4,05 Tage; 95% credible interval 0,22–8,71; Wahrscheinlichkeit P [mittlere Differenz ≥0] = 97,9%).

Die Inzidenz von Neuinfektionen war durch die Einnahme von Glucocorticoiden insgesamt nicht erhöht (Tab. 1).

Diskussion

Die präventive Anwendung von Glucocorticoiden bei stark ARDS-gefährdeten Patienten führte zu einem schlechteren Krankheitsverlauf mit häufigerer ARDS-Entwicklung und erhöhtem Mortalitätsrisiko. Als mögliche Ursache wird die verstärkte Freisetzung des proinflammatorischen Zytokins Makrophagen-Migrations-Inhibitions-Faktor diskutiert.

Auch für die Behandlung von ARDS mit Glucocorticoiden konnte in dieser Metaanalyse keine überzeugende Wirkung gezeigt werden; sowohl die Mortalität als auch die Notwendigkeit künstlicher Beatmung war im Vergleich zu Plazebo geringfügig reduziert.

Die Datenanalyse mit Hilfe des Bayesianischen Ansatzes ist umstritten. Statistische Unsicherheiten der Ergebnisse können besser eingeschätzt werden als nach Berechnung des Konfidenzintervalls, allerdings nur, wenn die tatsächlich gemessenen Werte gut mit den getroffenen Vorannahmen übereinstimmen. Dies gestaltete sich in der vorliegenden Untersuchung schwierig, da je nach Szenario gegensätzliche Effekte auftraten. In erster Linie dürfte die eingeschränkte Aussagekraft der Analyse jedoch auf die relativ geringe Patientenzahl und die Heterogenität der Studien zurückzuführen sein.

Solange keine bessere Therapiemöglichkeit zur Verfügung steht, scheint die Behandlung von ARDS mit Glucocorticoiden bei manifestiertem ARDS vertretbar, zumal keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auftreten und die Behandlungskosten überschaubar sind. Weitere klinische Studien sollten durchgeführt werden.


Quellen

Peter JV, et al. Corticosteroids in the prevention and treatment of acute respiratory distress syndrome (ARDS) in adults: meta-analysis. BMJ 2008;336:1006–9.

Adhikari NK, Scales DC. Corticosteroids for acute respiratory distress syndrome. BMJ 2008;336:969–70.


Ausführlichere Informationen zum Bayesianischen Ansatz finden Sie auf den Seiten 464 bis 465 in diesem Heft der Arzneimitteltherapie.

Arzneimitteltherapie 2008; 26(12)