Systemische Thrombolyse beim ischämischen Insult jenseits von drei Stunden


Prof. Dr. H. C. Diener, Essen

Schlaganfälle sind häufig und zum Teil verheerend. Bei bis zu 40% aller Patienten mit einer Durchblutungsstörung des Gehirns (ischämischer Insult) verbleiben so schwere Ausfälle, dass eine bleibende Behinderung und Pflegebedürftigkeit resultiert. Die einzig bisher zugelassene spezifische Therapie beim ischämischen Insult innerhalb eines 3-Stunden-Fensters nach Beginn der Symptomatik ist die systemische Thrombolyse mit dem Gewebe-Plasminogen-Aktivator Alteplase (rt-PA, Actilyse®). Die Wirksamkeit dieser Behandlung wurde in einer randomisierten US-amerikanischen Studie gezeigt, die im Jahre 1995 publiziert wurde [1]. Diese Untersuchung ergab, dass, wenn Alteplase innerhalb der ersten drei Stunden nach einem ischämischen Insult gegeben wird, die behandelten Patienten eine um 30% höhere Chance haben, nach drei Monaten weitestgehend gesund oder mit minimaler Behinderung zu sein. Diese Studie führte dann im Jahr 2000 in Deutschland zur Zulassung von Actilyse® innerhalb des 3-Stunden-Fensters. Beim Internationalen Schlaganfall-Kongress in Wien im September 2008 wurde dann die ECASS-III-Studie vorgestellt, die 821 Schlaganfallpatienten einschloss, die in einem Zeitfenster zwischen 3 und 4,5 Stunden entweder mit Alteplase oder Plazebo behandelt wurden [2]. Auch in diesem Zeitfenster fand sich eine eindeutige Überlegenheit der Thrombolyse gegenüber der Plazebo-Behandlung, wobei auch die etwas erhöhte Rate an intrakraniellen Blutungen bei einer systemischen Thrombolyse an diesem Ergebnis nichts änderte.

Was hat dies nun für praktische Konsequenzen für den behandelnden Arzt zu einem Zeitpunkt, wo eine Erweiterung des therapeutischen Zeitfensters wissenschaftlich belegt ist, die Substanz aber für diese Indikation noch nicht zugelassen ist und es sich dann um eine Off-Label-Behandlung handelt?

Man könnte es sich jetzt leicht machen und sagen, dass man einfach mit der Behandlung im 3- bis 4,5-Stunden-Fenster so lange wartet, bis Alteplase für diesen Zeitabschnitt offiziell zugelassen ist. Mit einer Zulassung ist in 12 bis 18 Monaten zu rechnen. Dieser Auffassung widerspricht aber ein Urteil des Oberlandesgerichts Köln aus dem Jahr 1990. Es ging damals um ein 2-jähriges Kind mit Verdacht auf eine Herpesvirus-Enzephalitis. Die behandelnden Ärzte verzichteten auf eine Behandlung mit Aciclovir, da das Präparat zum damaligen Zeitpunkt für die Behandlung der Herpes-Enzephalitis noch nicht zugelassen war. Das Oberlandesgericht war allerdings der Meinung, dass das Medikament hätte eingesetzt werden müssen, da es medizinisch geboten war. Eine Verweigerung der Thrombolyse im Zeitfenster zwischen 3 und 4,5 Stunden könnte daher nach diesem Urteil in Analogie zu einer Verurteilung des nicht behandelnden Arztes führen.

Kommt es allerdings im Zeitfenster zwischen 3 und 4,5 Stunden durch die Gabe von Alteplase zu einer zerebralen Blutung, könnte der behandelnde Arzt angeklagt werden, da er die Behandlung außerhalb des zugelassenen Zeitfensters durchgeführt hat. Die einzige Möglichkeit, sich davor zu schützen, ist, Patienten und Angehörige umfassend aufzuklären, dass es sich bei der Behandlung im 3- bis 4,5-Stunden-Fenster um eine Off-Label-Therapie handelt, und sich das Einverständnis des Patienten zu diesem individuellen Heilversuch einzuholen.

Ein weiterer Diskussionspunkt wird die Erstattung der Thrombolyse außerhalb der jetzigen Zulassung durch die gesetzlichen Krankenkassen sein. Hier ist allerdings ein Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2002 hilfreich.

Quellen

1. The National Institute of Neurological Disorders and Stroke rt-PA Stroke Study Group. Tissue plasminogen activator for acute ischemic stroke. N Engl J Med 1995;333:1581–7.

2. Hacke W, Kaste M, Bluhmki E, Brozman M, et al. Thrombolysis with alteplase 3 to 4.5 hours after acute ischemic stroke. N Engl J Med 2008;359:1317–29.

Das Bundessozialgericht hat damals drei Voraussetzungen für eine zulässige Off-Label-Verschreibung entwickelt:

1. Es muss sich um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung handeln. Dies ist beim Schlaganfall ohne Zweifel der Fall.

2. Es darf keine andere Therapie verfügbar sein. Auch dies trifft zu, da es auch jenseits des 3-Stunden-Fensters keine spezifische Therapie des ischämischen Insults gibt.

3. Aufgrund der Datenlage muss die begründete Aussicht bestehen, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann. Dieser Aspekt ist durch die ECASS-III-Studie erfüllt.

Diese Ausführungen zeigen, dass sich der behandelnde Arzt in Fällen, in denen er eine Therapie nicht durchführt, genauso auf juristisches Glatteis begibt, als wenn er eine Therapie außerhalb der Zulassung durchführt, wenn es hier zu einer Komplikation kommt. Angesichts dieser Rechtslage erwarten alle Schlaganfall-Neurologen daher sehnsüchtig die Zulassung von Alteplase im Zeitfenster zwischen 3 und 4,5 Stunden.

Liebe Leserin, lieber Leser, dieser Artikel ist nur für Abonnenten der AMT zugänglich.

Sie haben noch keine Zugangsdaten, sind aber AMT-Abonnent?

Registrieren Sie sich jetzt:
Nach erfolgreicher Registrierung können Sie sich mit Ihrer E-Mail Adresse und Ihrem gewählten Passwort anmelden.

Jetzt registrieren