GnRH-Antagonisten in der Therapie des metastasierten Prostatakarzinoms


Stellenwert von Degarelix und Anwendung in der Praxis

Veröffentlicht am: 28.11.2019

Christoph Rüssel, Borken

Ziel der medikamentösen Therapie des Prostatakarzinoms mit GnRH-Agonisten und -Antago- nisten ist die Hemmung der androgenvermittelten Tumorzellstimulation. Im vorliegenden Beitrag werden die verschiedenen Optionen der medikamentösen Kastration zur Therapie des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms dargestellt und die mögliche Bedeutung der bei Anwendung von GnRH-Agonisten beobachteten sogenannten Testosteron-Surges für den Therapieerfolg erörtert. Mögliche Indikationen einer Therapie mit dem GnRH-Antagonisten Degarelix werden anhand zweier Kasuistiken vorgestellt.
Arzneimitteltherapie 2011;29:83–8.

Grundlage der Hormonentzugstherapie sind die Arbeiten von Charles Huggins. Huggins konnte zeigen, dass der Testosteronentzug durch die bilaterale Orchiektomie eine effektive Therapie in der Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms darstellt [1]. Ziel der Hormontherapie ist die Hemmung der androgenvermittelten Tumorzellstimulation des Prostatakarzinoms. In den vergangenen Jahren galt die medikamentöse Kastration mit GnRH-Agonisten als Therapie der Wahl beim fortgeschrittenen Prostatakarzinom. Seit einigen Jahren stehen in Deutschland mit Abarelix und Degarelix GnRH-Antagonisten für die medikamentöse Kastration zur Verfügung. Diese führen zu einer kompetitiven, reversiblen Blockade des GnRH-Rezeptors und somit innerhalb weniger Tage zu einem deutlichen und anhaltenden Absinken des Testosteronspiegels, vergleichbar mit dem bei der bilateralen Orchiektomie erzielten Testosteronverlauf (bei der operativen Kastration werden Testosteron-Werte <0,2 ng/ml erreicht). Es kommt nicht zu dem für die GnRH-Agonisten typischen initialen Testosteronanstieg (Testosteron-Surge), wodurch das sogenannte Flare-up-Phänomen (Zunahme tumorbedingter Symptome, z. B. Knochenschmerzen) und ein unerwünschtes Tumorwachstum vermieden werden können. Auch während des weiteren Therapieverlaufs wurden bisher keine Testosteron-Surges (sog. Microsurges) gemessen.

Prinzip der Androgenwirkung

Bildung und Sekretion von Testosteron, dem wichtigsten zirkulierenden Androgen, werden über die Hypothalamus-Hypophysen-Achse gesteuert. Infolge der Stimulation durch das im Hypothalamus gebildete Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) kommt es zur Ausschüttung des luteinisierenden Hormons (LH) durch die Hypophyse. LH stimuliert die Leydigzellen im Hoden und bewirkt dadurch die Produktion und Sekretion von Testosteron [2]. Im Prostatagewebe gelangt Testosteron durch aktiven Transport oder passive Diffusion in das Zytoplasma um dort mit dem Androgen- oder Estrogenrezeptor zu interagieren. Innerhalb des Zytoplasmas kann Testosteron durch die 5α-Reductase in das deutlich wirksamere Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt werden [3]. Über den Hormon-Rezeptor-Komplex kann die hormonregulierte Genexpression beeinflusst werden, mit der Folge einer Stimulation des Zellwachstums und der Zelldifferenzierung.

Formen der Kastration

Grundsätzlich stehen – neben der chirurgischen Kastration (bilaterale Orchiektomie) – zwei medikamentöse Therapieprinzipien zur Kastration zur Verfügung (Tab. 1):

  • GnRH-Agonisten
  • GnRH-Antagonisten

Beim medikamentösen Androgenentzug wird die Androgenproduktion durch Hemmung der LH-Produktion supprimiert. Ein Erreichen des Kastrationsbereichs mit Testosteronwerten unter 0,2–0,5 ng/ml gilt als Ziel der androgendepriven Therapie [18] und sollte nach Therapieeinleitung kontrolliert werden. Perachino et al. zeigten, dass neben dem Gleason-Score (siehe Kasten S. 86) und dem PSA-Wert auch die Absenkung der Testosteron-Serumkonzentration im Therapieverlauf prognostisch relevant für das Gesamtüberleben der Patienten war und leiteten aus diesen Ergebnissen ab, dass das Therapieziel bei Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom eine größtmögliche Absenkung der Testosteron-Serumkonzentration sein sollte [19].

Tab. 1. GnRH-Agonisten und -Antagonisten

Substanzklasse

Wirkstoff

Handelsname (Beispiel)

GnRH-Agonisten:

Histrelin

Triptorelin

Leuprorelin

Goserelin

Buserelin

Vantas®

Decapeptyl®

Trenantone®

Zoladex®

Profact®

GnRH-Antagonisten:

Degarelix

Abarelix

Firmagon®

Plenaxis®

GnRH-Agonisten

GnRH-Agonisten (Tab. 1) führen zunächst zu einer Überstimulation der GnRH-Rezeptoren mit vermehrter LH- und FSH-Bildung (10- bzw. 5-fach erhöhte LH- und FSH-Spiegel; FSH: follikelstimulierendes Hormon). Im weiteren Verlauf (nach etwa 1 bis 2 Wochen) kommt es zu einer drastischen Downregulation der GnRH-Rezeptoren in der Hypophyse mit nachfolgend verminderter LH- und FSH-Sezernierung und ausbleibender testikulärer Testosteronsynthese. Die gemessenen Testosteronwerte erreichen nach etwa zwei Wochen Kastrationsniveau.

In der ersten Woche nach erstmaliger Gabe eines GnRH-Agonisten kommt es infolge der initial erhöhten LH-Freisetzung zu einer gesteigerten Testosteronproduktion mit Entwicklung des sogenannten Testosteron-Surge. Dies führt bei Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom und hoher Tumorlast in etwa 10% der Fälle zu einer Zunahme der tumorbedingten klinischen Symptomatik („Flare-up-Phänomen“) mit Verschlimmerung der metastasenbedingten Knochenschmerzen und eventuell zusätzlicher Spinalkanalkompression. Diese Verschlechterung als Ausdruck passageren Tumorwachstums wird von einigen Autoren sehr kritisch bewertet. Möglicherweise wird auch das Langzeitüberleben beeinflusst [4]. Bereits symptomatische Patienten sollten daher bei Therapieeinleitung mit GnRH-Agonisten imperativ Antiandrogene erhalten [5]. In einer Studie wurde bei gleichzeitiger Gabe eines Antiandrogens über einen Zeitraum von einer Woche vor bis drei Wochen nach erstmaliger GnRH-Agonisten-Gabe das Auftreten des Flare-up-Phänomens verhindert [6]. Mögliche Hitzewallungen sind als Folge des sich dann einstellenden Androgenentzugs zu sehen.

GnRH-Antagonisten

Bei der Gabe von GnRH-Antagonisten kommt es zu einer sofortigen Kompetition zwischen dem natürlichen GnRH und dem GnRH-Antagonisten. Der Komplex zwischen Rezeptor und Antagonist kann von den körpereigenen Proteasen nur schlecht abgebaut werden und ist daher länger wirksam. In der Folge reduziert sich innerhalb von 24 Stunden die LH- und FSH-Konzentration um bis zu 80% für LH bzw. 40% für FSH. Die Testosteron-Serumkonzentration wird sofort – ohne zwischenzeitlichen Testosteron-Anstieg – supprimiert, wie dies auch bei der Orchiektomie der Fall ist. Es wird kein Testosteron-Surge und entsprechend auch kein Flare-up-Phänomen beobachtet [7].

Mit Degarelix steht seit Februar 2009 ein moderner Vertreter dieser Substanzklasse zur Verfügung. Zugelassen ist Degarelix zur Behandlung erwachsener Patienten mit fortgeschrittenem hormonabhängigem Prostatakarzinom. In der Phase-III-Studie CS21 wurden bei 610 Prostatakarzinom-Patienten aller Stadien Wirksamkeit und Sicherheit zweier Dosierungsschemata von Degarelix (initial 240 mg; Erhaltungstherapie 80 oder 160 mg monatlich s. c.) mit der Standardtherapie von 7,5 mg Leuprorelin monatlich i.m. verglichen [8]: Während unter Degarelix die Testosteron-Serumkonzentration rasch abfiel, kam es unter Leuprorelin zunächst zu einem Anstieg des Testosteronspiegels (Abb. 1). Unter Degarelix hatten bereits drei Tage nach Therapiebeginn mehr als 95% der Patienten Testosteronwerte ≤0,5 ng/ml. Der mediane Testosteronwert unter Degarelix lag zwischen 0,082 ng/ml und 0,088 ng/ml. Auch der PSA-Wert fiel unter Degarelix schneller als unter Leuprorelin. Die PSA-Werte waren in beiden Degarelix-Gruppen an den Tagen 14 und 28 signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe (p<0,001; Abb. 2) und blieben während der gesamten 1-jährigen Studienlaufzeit auf niedrigem Niveau.

Abb. 1. Veränderung der Testosteron-Serumkonzentration in der CS21-Studie (modifiziert nach [8]). Während es in beiden Degarelix-Armen zu einem raschen Abfall der Testosteron-Serumkonzentrationen kam – 95% der Patienten hatten nach drei Tagen das auf ≤0,5 ng/ml festgelegte Kastrationsniveau erreicht –, stieg der Testosteronspiegel in der Leuprorelin-Gruppe zunächst an und erreichte erst nach 28 Tagen Kastrationsniveau.

Abb. 2. Veränderung der PSA-Serum-Spiegel in der CS21-Studie (mod. nach [8])

Unter beiden Studienmedikationen traten keine unerwarteten Nebenwirkungen auf. Mit 78 und 79% waren Nebenwirkungen unter Leuprorelin und Degarelix nahezu gleich häufig. Die häufigste Nebenwirkung unter Degarelix waren Reaktionen an der Injektionsstelle (35%). Diese traten jedoch meist bei der ersten Injektion auf, bei Folgeinjektionen kam es lediglich in 4% der Fälle zu Reaktionen. Hitzewallungen waren unter beiden Substanzen etwa gleich häufig (26% bzw. 21%) [8]. Auch traten die in früheren Studien mit anderen Antagonisten – z. B. mit Abarelix – beobachteten systemischen allergischen Reaktionen unter Degarelix nicht auf.

Die Wirkung von Degarelix kommt der Wirkung der Orchiektomie sehr nahe, wobei Degarelix den Vorteil der Reversibilität bietet.

Die klinische Relevanz des Testosteron-Anstiegs

Initialer Testosteron-Surge

Über die klinische Relevanz des Testosteron-Anstiegs in der initialen Therapiephase besteht Einigkeit. Das Flare-up-Phänomen spielt insbesondere bei Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom eine Rolle. Wie bereits erwähnt, sind etwa 10% der Patienten betroffen; manche Studien verzeichnen aber auch einen wesentlich höheren Prozentsatz von bis zu 63% [9]. Auch wenn bei Patienten mit nichtmetastasiertem Prostatakarzinom Flare-up-Phänomene selten sind, ist hier von einem Wachstumsstimulus auf den Tumor durch den Testosteronanstieg auszugehen. Daher ist es wichtig, insbesondere bei symptomatischen Patienten (z. B. mit Wirbelsäulenmetastasen und/oder Harnwegsobstruktion) durch den initialen Anstieg der Testosteron-Serumkonzentration bedingte Komplikationen zu vermeiden. Hierzu wird zusätzlich zum GnRH-Agonisten in den ersten beiden Therapiewochen ein Antiandrogen (AA) verabreicht, wodurch ein initialer Anstieg des PSA-Werts [10, 11] und die Verschlechterung der klinischen Symptomatik [12] verhindert werden.

Aufgrund des Wirkungsmechanismus der GnRH-Antagonisten kommt es bei Gabe dieser Substanzen nicht zu einem initialen Testosteronanstieg und damit einhergehenden Komplikationen. Eine zusätzliche Gabe von Antiandrogenen ist daher nicht erforderlich.

Testosteron-Microsurges im Therapieverlauf

Diskutiert wird aber auch der Einfluss der Testosteron-Surges unter GnRH-Agonisten im weiteren Therapieverlauf. Diese sogenannten Microsurges treten auf, wenn am Ende der Wirkzeit des Depots unbesetzte GnRH-Rezeptoren vorhanden sind, die dann bei erneuter Gabe eines GnRH-Agonisten stimuliert werden.

Meist werden die Antiandrogene nur zusätzlich zur ersten Injektion des GnRH-Agonisten eingesetzt. So können die Auswirkungen der Microsurges als Folge weiterer GnRH-Agonisten-Injektionen nicht verhindert werden. Derzeit wird diskutiert, ob Microsurges, die in der Regel die klinische Symptomatik nicht oder kaum beeinträchtigen, eine klinische Relevanz haben, da sie einen Wachstumsschub der Tumorzellen induzieren könnten. Zurzeit gibt es hierzu noch keine speziellen Untersuchungen. Hinweise können jedoch Studien entnommen werden, in denen GnRH-Agonisten direkt mit der Orchiektomie verglichen werden:

In drei von fünf klinischen Studien zeigte sich ein Überlebensvorteil für die orchiektomierten Patienten im Vergleich zu jenen, die mit einem GnRH-Agonisten behandelt wurden [13]. Eine Metaanalyse von 12 randomisierten Studien zeigte einen tendenziellen (nicht signifikanten) Überlebensvorteil für die orchiektomierten Patienten im Vergleich zur medikamentösen Kastration mit GnRH-Agonisten [13].

Die Unterschiede zwischen GnRH-Agonisten und Orchiektomie könnten ein Hinweis darauf sein, dass die unter GnRH-Agonisten auftretenden Testosteron-Surges zu einer Verschlechterung der Prognose führen. Unter GnRH-Antagonisten wurden bisher weder zu Beginn der Therapie noch im weiteren Verlauf Testosteron-Surges gesehen. Die Wirkung kommt daher dem Effekt der Orchiektomie näher, als dies bei GnRH-Agonisten der Fall ist.

Morote et al. konnten in einer Studie nachweisen, dass Testosteronspitzen nicht nur häufig vorkommen, sondern auch klinische Auswirkungen auf die PSA-Progression haben. Patienten mit Testosteron-„Ausreissern” >32 ng/dl (0,32 ng/ml) zeigten ein signifikant kürzeres progressionsfreies Überleben als die Patienten, die keine Microsurges hatten (88 Monate versus 137 Monate) [14]. Für Morote et al. gilt ein Testosteronspiegel von 32 ng/dl (0,32 ng/ml) als Schwellenwert – ab dieser Höhe könnte sich der Testosteronspiegel klinisch auswirken und beispielsweise einen negativen Einfluss auf das progressionsfreie Überleben haben.

Bedeutung der S-ALP

Weitere mögliche Vorteile von GnRH-Antagonisten gegenüber -Agonisten konnten in einer 2008 publizierten retrospektiven Analyse der Daten aus der Zulassungsstudie von Degarelix gezeigt werden: Schröder et al. [15] untersuchten den Effekt von Degarelix auf die alkalische Phosphatase im Serum (S-ALP). Die Laboruntersuchungen waren prospektiv im Rahmen der Studie durchgeführt worden. Da es sich bei der Gesamtkohorte dieser Studie um ein gemischtes Patientengut handelte (metastasiert, nichtmetastasiert), wurde bei der Analyse der S-ALP-Daten spezielles Augenmerk auf die metastasierte Subpopulation und die Subgruppe mit hohem PSA-Ausgangswert (>50 ng/ml) gerichtet. Der Ausgangs-S-ALP-Wert war 205 I.U./l für die metastasierten Patienten, 295 I.U./l für die metastasierten Patienten mit einem Hb-Wert <13 und 166 I.U./l für Patienten mit einem PSA-Wert >50 ng/ml. Nach einem Jahr zeigte sich bei den S-ALP-Werten ein signifikanter Unterschied zugunsten von Degarelix für die Subpopulation der metastasierten Patienten (p=0,045) und die Gruppe der Patienten mit einem PSA-Ausgangswert von >50 ng/ml (p=0,007) [15]. Der Kurvenverlauf zeigte, dass es unter Leuprorelin bereits nach 250 Tagen zu einem Wiederanstieg der S-ALP-Werte kam. Im Vergleich dazu waren die S-ALP-Werte in den Degarelix-Gruppen anhaltend niedrig, was auf eine bessere Kontrolle der Knochenmetastasen hindeuten könnte.

Die negative prognostische Auswirkung von Knochenmetastasen oder hohen Ausgangs-PSA-Werten ist gut etabliert. Durch die Einführung der PSA-Messung hat die Bestimmung der S-ALP an praktischer Bedeutung verloren, in einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung konnte jedoch auch der prognostische Wert der S-ALP bestätigt werden [16]. Die S-ALP kann im weitesten Sinne als Knochenmarker und damit als Parameter für das Ausmaß der Knochenmetastasierung interpretiert werden. Die vorliegenden Daten aus der Degarelix-Zulassungsstudie bestätigen damit in einem ersten Schritt die theoretischen Vorteile gegenüber den GnRH-Agonisten für diesen Parameter. In einer von Tombal et al. veröffentlichten Subgruppenanalyse der CS21-Studie konnte unter Degarelix ein besseres PSA-progressionsfreies Überleben gezeigt werden als unter Leuprorelin (p=0,05) [17].

GnRH-Antagonisten im Praxis-Alltag der Prostatakarzinom-Therapie

M0-Situation

Unter GnRH-Antagonisten kommt es zu keinem initialen Testosteron-Surge und auch unter der Erhaltungstherapie werden die von den GnRH-Agonisten bekannten Microsurges nicht beobachtet. Nach derzeitiger Studienlage könnte dies ein Vorteil für den weiteren Verlauf der PSA-Progression sein. Daher kann auch in der M0-Situation, wenn keine kurative Lokaltherapie eingeleitet wird, beispielsweise bei Vorliegen von schweren Begleiterkrankungen oder Ablehnung anderer Therapien durch den Patienten, eine medikamentöse Kastration mit Degarelix erwogen werden.

Kasuistik: Primärdiagnose Prostatakarzinom M0 ohne Obstruktion

  • 72-jähriger Patient mit koronarer Herzkrankheit (KHK), arterieller Hypertonie und Zustand nach aortokoronarer Venenbypass-(ACVB-)Operation
  • PSA-Wert initial 8,90 ng/ml; Histologie (PE): Gleason-Score (siehe Kasten) 7b (4+3) bds., Klin. T3; keine Obstruktion

Gleason-Score

Der für das histologische Grading des Prostatakarzinoms verwendete Score ist die Summe zweier "Gleason-Werte" zwischen 1 und 5, die für den Entdifferenzierungsgrad des Tumorgewebes stehen (je höher der Wert, desto höher der Grad der Entdifferenzierung; der Score kann also zwischen 2 und 10 betragen). Im mittels Stanzbiopsie gewonnenen Präparat werden die Werte für den am schlechtesten differenzierten Grad (Wert 1) und den häufigsten Grad (Wert 2) addiert, im bei der Prostatektomie gewonnenen Gewebe wird die Summe aus dem häufigsten (Wert 1) und dem zweithäufigsten Grad (Wert 2) gebildet (z. B. Gleason-Score 3+4=7). Bei einem Gleason-Score von 2 bis 4 liegt ein gut differenzierter Tumor vor (Grad 1 nach TNM), bei einem Score von 5 bis 6 ein mittelgradig differenzierter Tumor (Grad 2), bei einem Score von 7 ein mittelgradig bis schlecht differenzierter Tumor (Grad 2–3) und bei einem Score von 8 bis 10 ein schlecht bis entdifferenzierter Tumor (Grad 3). In der Stanzbiopsie ist es in der Regel nicht möglich, Gleason-Werte von 1 oder 2 zu diagnostizieren – der niedrigste Score im Stanzbiopsat ist demnach 3+3=6.

Therapeutisches Vorgehen und Verlauf:

Der Patient erhält eine intermittierende Androgen-Deprivation (IAD; → Induktionstherapie über in der Regel 6–7 Monate, bei Erreichen eines festgelegten PSA-Werts Therapiepause, Wiederaufnahme der Therapie in Abhängigkeit vom PSA-Wert) mit Degarelix, nachdem von seiner Seite die Therapieoptionen Radiatio der Prostata, Prostatektomie und „Watchful waiting“ abgelehnt wurden.

Nach Einleitung der Therapie mit Degarelix 2-mal 120 mg s. c. betrug der PSA-Wert bei der ersten Kontrolle nach vier Wochen 2,10 ng/ml, der Testosteronspiegel lag mit 0,15 ng/ml im Kastrationsbereich (Abb. 3). Es erfolgte eine zweite Injektion Degarelix (1-mal 80 mg s. c.). Nach weiteren vier Wochen war der PSA-Wert auf 1,35 ng/ml abgesunken, der Testosteronspiegel betrug <0,10 ng/ml. Der Patient erhielt die nächste Injektion Degarelix 1-mal 80 mg s. c. Nach insgesamt 12 Wochen Therapie lag der PSA-Wert bei 0,45 ng/ml, der Testosteronspiegel betrug weiterhin <0,10 ng/ml. Die Therapie wird im Rahmen einer intermittierenden Androgendeprivation mit Degarelix 1-mal 80 mg s. c. fortgesetzt.

Abb. 3. Testosteron-Serumkonzentration und PSA-Wert während der ersten 3 Monate einer intermittierenden Androgendeprivation mit Degarelix bei einem 72-jährigen Patienten mit einem Prostatakarzinom im Stadium T3 M0 und kardialer Vorgeschichte (arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Z. n. aortokoronarem Venenbypass), der eine Radiatio der Prostata abgelehnt hatte

Fazit

Die Kasuistik zeigt, dass nach initialer Therapie mit Degarelix 2-mal 120 mg s. c. eine rasche Senkung des Testosteronspiegels erreicht werden und unter Erhaltungstherapie die biochemische Remission des PSA-Werts gelingen kann. Die Therapie mit dem GnRH-Antagonisten Degarelix kann eine Therapieoption sein, wenn kurative Therapien (in dieser Kasuistik lokale Bestrahlung in Kombination mit einer Hormontherapie) durch den Patienten abgelehnt werden.

M1-Situation

Die Daten aus den Subgruppen-Analysen der Zulassungsstudie weisen darauf hin, dass Patienten mit Knochenmetastasen bzw. einer hohen Tumorlast (PSA >50 ng/ml) von einer Therapie mit Degarelix profitieren können. Vor allem symptomatische Patienten mit Metastasen profitieren von der schnellen Testosteron-Absenkung.

Eine weitere interessante Indikation für GnRH-Antagonisten ist der Einsatz bei asymptomatischen Patienten, die unter der Therapie mit GnRH-Agonisten einen PSA-Anstieg zeigen. Für diesen Einsatz gibt es noch keine klinischen Daten aus größeren Studien, eine Phase-II-Studie (CS27) wird derzeit ausgewertet. Da bei diesen Patienten jedoch der Einsatz der Chemotherapie umstritten ist, ist der Versuch einer „sekundären Hormonmanipulation“ mit Degarelix als individueller Heilversuch gerechtfertigt. Die folgende Kasuistik verdeutlicht den Einsatz bei dieser Indikation.

Kasuistik: PSA-Anstieg unter einer Therapie mit einem GnRH-Agonisten

  • 74-jähriger Patient, Diabetes mellitus Typ 2, Z. n. Nephrektomie links
  • Prostatakarzinom Gleason-Score 7 seit 11/05, T3 N0 M0, PSA 15,5 ng/ml
  • Intermittierende Androgendeprivation mit Leuprorelin bis Mai 2008, danach kontinuierlich bis Juli 2009
  • PSA-Anstieg unter GnRH-Agonist von 1,5 auf 9,5 (08/09)
  • Testosteron-Serumkonzentration: 0,45 ng/ml (08/09); keine Symptomatik, Einnahme von Tamsulosin

Therapeutisches Vorgehen und Verlauf

Einleitung einer Behandlung mit Degarelix 2-mal 120 mg s. c. im August 2008. Nach etwa vier Wochen lag der PSA-Wert bei 5,7 ng/ml, der Testosteronwert bei 0,15 ng/ml (Abb. 4). Unter Degarelix sank der PSA-Wert in den Folgemonaten weiter ab. Die Therapie wird mit Degarelix 1-mal 80 mg s. c. fortgeführt.

Abb. 4. Testosteron-Serumkonzentration und PSA-Wert im Verlauf einer Therapie mit Degarelix bei einem 74-jähigen Diabetiker mit einem Prostatakarzinom im Stadium T3 N0 M0, bei dem es unter einem GnRH-Agonisten zu einem Anstieg des PSA-Werts gekommen war

Während unter der Therapie mit einem GnRH-Agonisten bei ausreichend niedrigem Testosteronspiegel ein PSA-Anstieg als Ausdruck der beginnenden Kastrationsresistenz zu verzeichnen war, zeigte sich nach Umsetzen auf Degarelix ein über drei Monate anhaltender PSA-Abfall.

Fazit

Dieses Beispiel zeigt, dass eine „sekundäre Hormonbehandlung“ mit Degarelix nach Versagen einer GnRH-Agonisten-Therapie ein erwägenswerter Therapieansatz ist.

Schlussfolgerung

Die Androgendeprivation ist ein über viele Jahre etabliertes, einfach und effektiv anzuwendendes Konzept zur Therapie des Prostatakarzinoms. Bei unverändertem Grundprinzip stellen die unterschiedlichen Indikationsstellungen die eigentliche Herausforderung für den behandelnden Arzt dar. Die Therapie mit einem GnRH-Antagonisten erweitert zum einen die Möglichkeiten der Hormontherapie (z. B. bei PSA-Anstieg unter einem GnRH-Agonisten) und bietet zum anderen eine gute oder möglicherweise überlegene Alternative zur Standardbehandlung mit GnRH-Agonisten. Inwieweit tatsächlich eine Überlegenheit zu den bisherigen Therapieformen im Gesamtüberleben besteht, müssen weitere Studien zeigen.

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Literatur

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18. Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms.

19. Perachino M, Cavalli V, Bravi F. Testosteron levels in patients with metastatic prostate cancer treated with luteinizing hormone-releasing hormone therapy: prognostic significance? BJU Int 2009;105:648–51.

Dr. Christoph Rüssel, Facharzt für Urologie und Medikamentöse Tumortherapie, Neutor 28–32, 46325 Borken, E-Mail: c.ruessel@t-online.de

GnRH antagonists in the treatment of metastatic prostate cancer – Significance of degarelix and fields of application

The objective of a therapy with GnRH agonists and antagonists in patients with prostate cancer is the inhibition of androgen mediated tumor cell stimulation. In this article the different options of medical castration are described and the potential consequences of testosteron surges and microsurges related to a therapy with GnRH agonists are discussed. Finally, potential indications for the use of the GnRH antagonist degarelix are presented on the basis of two case histories (intermittent androgen deprivation in a case of metastatic prostate cancer and concomitant heart disease; metastatic carcinoma and beginning hormone resistance).

Key words: Prostate cancer, hormone therapy, GnRH agonists, GnRH antagonists, PSA, testosterone surges, microsurges

Arzneimitteltherapie 2011; 29(03)