Fingolimod

Neue orale Behandlungsmöglichkeit für Patienten mit multipler Sklerose


Veröffentlicht am: 28.11.2019

Dr. Susanne Heinzl, Reutlingen

Mit dem oral applizierbaren Sphingosin-1-phosphat(S1P)-Rezeptormodulator Fingolimod (Gilenya®) hat die EU-Kommission am 18. März 2011 ein neues Therapieprinzip für Patienten mit multipler Sklerose (MS) zugelassen. Wirkungsmechanismus, klinische Erfahrungen sowie bei der praktischen Anwendung zu beachtende Aspekte waren Thema einer von Novartis Pharma Ende März in München veranstalteten Pressekonferenz.

Sphingolipide wurden erstmals im Jahr 1874 von Johann Wilhelm Thudichum in Gehirnextrakten entdeckt. Sphingosin-1-phosphat (S1P) ist ein natürlich vorkommendes, bioaktives Sphingolipid, dass eine wichtige Funktion bei Entzündung und Reparaturmechanismen spielt. Es wird in verschiedenen Geweben exprimiert, beispielsweise von Lymphozyten und im Gehirn. Fingolimod ist ein Strukturanalogon zu Sphingosin (Abb. 1).

Abb. 1. Sphingosin und Fingolimod (FTY720; Gilenya®)

Sphingosin und Fingolimod werden durch ubiquitär vorkommende intrazelluläre Sphingosinkinasen phosphoryliert und so in die aktive Form überführt. Sie wirken über S1P-Rezeptoren (diese wurden erst im Jahr 1998 entdeckt).

Lymphozytenumverteilung in der Peripherie

Im Rahmen der normalen Immunabwehr werden autoreaktive T-Zellen in den Lymphknoten aktiviert. Die Auswanderung der aktivierten T-Zellen aus dem Lymphknoten wird über S1P-vermittelte Signale reguliert. Fingolimod bindet an S1P-Rezeptoren auf den T-Lymphozyten, hierdurch werden die Rezeptoren internalisiert und stehen nicht mehr als Signalempfänger für S1P zur Verfügung. Damit wird die Auswanderung der Lymphozyten aus den Lymphknoten gehemmt, entzündliche Prozesse im Gehirn werden verringert.

Fingolimod wirkt nur auf zirkulierende Zellen, das sind <2% aller Lymphozyten. Weder die T-Zell-Aktivierung noch die Funktion der T- und B-Gedächtniszellen wird beeinträchtigt, damit wird keine allgemeine Immunsuppression ausgelöst. Die Lymphozyten werden nicht zerstört, sondern umverteilt. Der Effekt ist reversibel, nach Absetzen von Fingolimod normalisiert sich die Zahl der zirkulierenden Lymphozyten innerhalb von einigen Tagen bis wenigen Wochen.

Darüber hinaus bindet Fingolimod im ZNS an die Rezeptorsubtypen S1P1, S1P3 und S1P5. Möglicherweise unterstützt es hierdurch Reparaturmechanismen. Im Tierexperiment konnte eine Stabilisierung der Blut-Hirn-Schranke mit Schutz der Myelinscheiden durch Fingolimod erreicht werden.

Klinische Erfahrungen

Im klinischen Studienprogramm wurden in Phase-II- und Phase-III-Studien über 6300 Patienten mit Fingolimod behandelt. Dies bedeutet etwa 12000 Patientenjahre Erfahrung. Mehr als 140 Patienten befinden sich derzeit im siebten Behandlungsjahr. In den klinischen Studien konnten mit Fingolimod im Vergleich zu Plazebo oder Interferon beta-1a folgende Wirkungen erzielt werden (siehe auch Arzneimitteltherapie 2010;28:135–8):

  • Signifikante Reduktion von Schubrate und Schubschwere
  • Reduktion der Behinderungsprogression
  • Signifikante Reduktion von Entzündungsaktivität und Läsionsbelastung im Gehirn
  • Signifikante Reduktion der Gehirnatrophie

Von der EU-Kommission wurde Fingolimod als krankheitsmodifizierende Monotherapie für Patienten mit hoch aktiver schubförmiger multipler Sklerose zugelassen, die trotz Behandlung mit Interferon beta eine hohe Krankheitsaktivität aufweisen, oder die an einer rasch fortschreitenden, schweren, schubförmig-remittierend verlaufenden multiplen Sklerose leiden.

Therapie in der Praxis

Vor Therapiebeginn mit Fingolimod sollte eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden. Hat der Patient bislang keine Windpocken durchgemacht, muss der Titer bestimmt und gegebenenfalls geimpft werden. Die Patienten können direkt von einer anderen MS-Therapie auf Fingolimod umgestellt werden, außer bei einer Behandlung mit Natalizumab, das wegen seiner langen Halbwertszeit eine Auswasch-Phase erfordert.

Die Therapie ist durch einen Arzt mit Erfahrung in der Behandlung der multiplen Sklerose einzuleiten und zu überwachen. Als Dosierung wird die einmal tägliche Einnahme von 0,5 mg Fingolimod empfohlen. Die Einnahme der Kapsel kann unabhängig von der Mahlzeit erfolgen. In den ersten 6 Stunden nach Einnahme der ersten Kapsel sind die Patienten wegen einer möglichen Bradykardie unter Beobachtung zu halten. Während der Therapie sind regelmäßige neurologische Kontrollen sowie Laboruntersuchungen sinnvoll. Wegen des geringen Risikos eines Makulaödems wird nach 3 bis 4 Monaten eine augenärztliche Untersuchung empfohlen.

Die Therapie mit Gilenya® kostet pro Tag 83,79 Euro (Apothekenverkaufspreis); für die Originalpräparate der Interferone sind es etwa 55 bis 65 Euro/Tag, für Natalizumab (Tysabri®) 85,96 Euro/Tag. (Red.)

Quelle

Prof. Dr. Bernd C. Kieseier, Düsseldorf, Prof. Dr. Ralf Gold, Bochum, Prof. Dr. Volker Limmroth, Köln, Pressegespräch „Gilenya® – der Perspektivenwechseln in der MS-Therapie“, München, 22. März 2011, veranstaltet von Novartis Pharma.

Arzneimitteltherapie 2011; 29(05)