Multiple Sklerose

Neue S2e-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS gibt Empfehlungen für die Praxis


Birgit Hecht, Stuttgart

Die Diagnose einer multiplen Sklerose kann nach aktuellen Empfehlungen bereits beim ersten Schub und mit einzeitiger Kernspintomographie gestellt werden. Bei der Diagnose der MS sind zahlreiche Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen. Durch den frühzeitigen Beginn einer immunmodulierenden Therapie kann der Verlauf der schubförmigen Erkrankung positiv beeinflusst werden. In der neuen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und des Krankheitsbezogenen Netzwerks Multiple Sklerose (KKNMS) wird die Therapie des akuten Schubs ebenso diskutiert wie die Basistherapie der MS, die Möglichkeiten der Therapieeskalation und symptomatische Therapien.

Von Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und des Krankheitsbezogenen Netzwerks Multiple Sklerose (KKNMS) wurde eine neue Leitlinie zur Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose (MS) bei Erwachsenen erarbeitet [1]. Die neue S2e-Leitlinie wurde im April 2012 online veröffentlicht und soll im Herbst 2012 in gedruckter Form erscheinen [2]. Im Folgenden werden wichtige Neuerungen bei der Diagnose und Therapie der MS zusammengefasst und die aktuellen Vorgehensweisen skizziert.

Diagnose

Nach der neuen DGN/KKNMS-Leitlinie kann die Diagnose einer multiplen Sklerose in Anlehnung an die international anerkannten McDonald-Kriterien 2010 [3] bereits gestellt werden, wenn nach einem ersten Krankheitsschub klinisch nachweisbare Auffälligkeiten in mindestens einem Funktionssystem vorliegen und sich zusätzlich zwei oder mehr charakteristische Läsionen in der initialen Magnetresonanztomographie (MRT) finden. Voraussetzung für die Diagnose ist, dass sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Dissemination nachgewiesen werden können. Für den Nachweis einer zeitlichen Dissemination genügt es inzwischen, wenn in der MRT-Untersuchung gleichzeitig eine nichtsymptomatische Gadolinium-anreichernde Läsion (eine frische Läsion, die nicht geeignet ist, um die Symptome zu erklären) und eine nichtanreichernde, also ältere Läsion nachgewiesen werden. Somit kann die Diagnose einer MS bei vielen Patienten bereits unmittelbar nach dem ersten Schub und mit einzeitiger Kernspintomographie gestellt werden (bisher war dies frühestens 30 Tage nach dem Beginn der klinischen Symptomatik möglich). Dies ist therapeutisch und prognostisch relevant, denn je früher die Diagnose gestellt wird, desto früher kann mit einer verlaufsmodifizierenden Therapie begonnen werden [2–4].

Ein Knackpunkt ist aber, dass die Diagnose einer MS nach wie vor nur dann gestellt werden darf, wenn es nichts gibt, was die Symptome und Befunde besser erklärt als das Vorliegen einer MS. Als Differenzialdiagnosen kommen unter anderem chronisch-infektiöse Erkrankungen (z.B. Borreliose, HIV-Enzephalitis, Lues), zerebrovaskuläre und metabolische Erkrankungen, Kollagenosen, Sarkoidosen, andere entzündlich-demyelinisierende Erkrankungen wie die akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM), die Neuromyelitis optica (NMO) und NMO-Spektrum-Erkrankungen sowie Tumoren in Betracht. Wichtige Hinweise liefern hier serologische Untersuchungen (z.B. Aquaporin-4- und andere Autoantikörper) sowie die Liquordiagnostik (z.B. oligoklonale Banden, Lymphozytenzahl, Antikörper gegen Masern, Röteln und Herpes zoster). Durch den sorgfältigen Ausschluss von Krankheitsbildern mit ähnlicher Symptomatik können Fehldiagnosen und Fehltherapien vermieden werden [2, 4].

Bei den Verlaufsformen werden nach wie vor die schubförmige MS („relapsing-remitting MS“, RRMS), die primär progrediente MS (PPMS), die sekundär progrediente MS (SPMS) und das klinisch isolierte Syndrom (KIS, clinically isolated syndrome, CIS) unterschieden. Von einem klinisch isolierten Syndrom spricht man, wenn erstmals eine typische klinische Symptomatik auftritt, die für ein demyelinisierendes Ereignis spricht, aber noch keine zeitliche Dissemination nachgewiesen werden kann [1].

Therapie

Wesentliche Änderungen der Therapie-Empfehlungen gegenüber der MS-Leitlinie der DGN von 2008 ergaben sich aufgrund neuer Studien zur Frühtherapie der MS mit immunmodulierenden Basistherapeutika, der Markteinführung von Fingolimod und der Notwendigkeit neuer Sicherheitsvorkehrungen bei der Therapie mit Natalizumab. Die Empfehlungen zur symptomatischen Therapie wurden in der neuen Leitlinie deutlich erweitert und umfassen nun sowohl nichtmedikamentöse als auch medikamentöse Maßnahmen bei Spastik und eingeschränkter Mobilität, Ataxie und Tremor, Fatigue, kognitiven Störungen sowie Blasen- und Sexualfunktionsstörungen. Neu hinzugekommen sind Kapitel zur Therapie der MS bei Kinderwunsch, in der Schwangerschaft und nach der Entbindung sowie Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Varianten der MS (NMO und ADEM) [1, 2].

Die aktuellen Empfehlungen zur Therapie des klinisch isolierten Syndroms sowie der schubförmigen und der sekundär progredienten MS sind in Abbildung 1 zusammengefasst.

Abb. 1. Stufenschema zur Therapie der multiplen Sklerose (MS) nach der S2e-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzwerks Multiple Sklerose (KKNMS) [1]. 1: Wirkstoffe in alphabetischer Reihenfolge. Die Darstellung impliziert innerhalb der jeweiligen Indikationsgruppe keine Überlegenheit eines Wirkstoffs gegenüber einem anderen. 2: Zugelassen, wenn Interferon beta nicht möglich ist oder unter Azathioprin ein stabiler Verlauf erreicht wird. 3: Einsatz nur postpartal im Einzelfall gerechtfertigt, insbesondere vor dem Hintergrund fehlender Behandlungsalternativen. 4: Fingolimod und Natalizumab haben neben der Zulassung zur Eskalationstherapie auch eine Zulassung zur Behandlung therapienaiver Patienten bei mindestens zwei behindernden Schüben mit Krankheitsprogression innerhalb der letzten 12 Monate und mindestens einer Gadolinium-anreichernden Läsion bzw. einer signifikanten Zunahme der T2-Läsionen in der MRT. 5: Zugelassen für bedrohlich verlaufende Autoimmunkrankheiten, somit lediglich für fulminante Fälle als Ausweichtherapie vorzusehen, idealerweise nur an ausgewiesenen MS-Zentren. CIS: Clinically Isolated Syndrom; RRMS: Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis; SPMS: sekundär progrediente MS; i.m.: intramuskulär; s.c.: subkutan

  • Beim akuten Schub gilt die kurzfristige Gabe hoch dosierter intravenöser Glucocorticoide, vor allem Methylprednisolon (z.B. Urbason® solubile forte), als Therapiestandard. Bei Fortbestehen der Symptome müssen eine Fortführung der Glucocorticoid-Therapie, eine Erhöhung der Glucocorticoid-Dosis und schließlich die Plasmapherese oder Immunadsorption erwogen werden.
  • Die immunmodulierenden Basistherapeutika Glatirameracetat (Copaxone®), Interferon beta-1a intramuskulär (Avonex®), Interferon beta-1a subkutan (Rebif®) und Interferon beta-1b subkutan (Betaferon®, Extavia®) werden für die Basistherapie der schubförmigen MS gleichermaßen empfohlen. Sie sind zudem alle zur Frühtherapie der MS bei Personen mit klinisch isoliertem Syndrom und hohem Risiko für das Auftreten einer klinisch gesicherten MS zugelassen. Für eine Therapie mit Beta-Interferonen sprechen die langjährige Erfahrung und das bekannt gute Nutzen-Risiko-Verhältnis. Als Nebenwirkungen einer Interferon-Therapie sind vor allem grippeartige Symptome zu nennen; sie haben einen wesentlichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten und können die Therapieadhärenz beeinflussen. Lokale Reaktionen an der Einstichstelle treten bei den Interferon-Präparaten (in unterschiedlicher Häufigkeit) sowie bei Glatirameracetat auf.
  • Mit Fingolimod (Gilenya®) steht die erste moderne orale Therapie der schubförmigen MS zur Verfügung, allerdings nur Patienten mit hochaktiver MS und für die Eskalationstherapie bei Patienten mit unzureichendem Ansprechen auf Basistherapeutika. Ein Grund für diese Einschränkung ist das erhöhte Risiko für Nebenwirkungen, die unter anderem das Herz-Kreislauf-System, die Augen und die Haut betreffen. Zudem liegen vergleichsweise wenig Erfahrungen vor – vor allem zu einer Anwendungsdauer von mehr als 2 Jahren. In der Leitlinie werden konkrete Hinweise zur Diagnostik möglicher Kontraindikationen vor Behandlungsbeginn, zu erforderlichen Kontrolluntersuchungen und der Therapie akuter MS-Schübe während der Therapie mit Fingolimod sowie zur Beendigung der Behandlung und der Umstellung auf andere MS-Therapeutika gegeben.
  • Natalizumab (Tysabri®) gilt wie Fingolimod als erste Wahl zur Eskalationstherapie der schubförmigen MS. Es ist ebenfalls zugelassen zur Behandlung von therapienaiven Patienten mit hochaktiver RRMS. Zu beachten ist insbesondere das Risiko des Auftretens der zwar seltenen, aber lebensbedrohlichen progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) als Folge einer Infektion mit dem JC-Virus. Das PML-Risiko ist insbesondere bei einer Therapiedauer von mehr als 24 Monaten erhöht. Daneben sind eine vorherige immunsuppressive Therapie sowie ein positiver Nachweis von JC-Virus-Antikörpern mit einem erhöhten PML-Risiko assoziiert.
  • Das Zytostatikum Mitoxantron (z.B. Ralenova®) sollte aufgrund seiner Nebenwirkungen (z.B. Knochenmarksuppression, Kardiotoxizität) nur in bestimmten Fällen eingesetzt werden: als Eskalationstherapie (2. Wahl) bei schweren Krankheitsverläufen und bei Patienten mit sekundär progredienter MS (insbesondere, wenn keine Schübe mehr auftreten [mangels Alternativen]). Bei primär chronisch progredienter MS sollte der Einsatz von Mitoxantron nur in besonderen Ausnahmefällen mit rascher Progredienz im Rahmen eines individuellen Heilversuchs erwogen werden. Aufgrund der kumulativen Toxizität von Mitoxantron ist eine Therapie mit diesem Wirkstoff zeitlich begrenzt.
  • Intravenöse Immunglobuline (IVIg) sollten bei der schubförmigen MS in Anbetracht der aktuellen Studienlage – wenn überhaupt – nur als Ausweichpräparat bei Nichtwirksamkeit und/oder Unverträglichkeit anderer Substanzen eingesetzt werden; wegen des günstigen Nebenwirkungsprofils kann der Einsatz von IVIg bei hoher Schubaktivität in der Stillzeit (nach der Entbindung) erwogen werden. Bei sekundär oder primär progredienter MS ist die Gabe von IVIg wegen mangelndem Wirksamkeitsnachweis nicht indiziert.
  • Neue symptomatische Therapien für die MS sind ein Cannabis-Präparat zur Behandlung der therapieresistenten Spastik (Sativex®) sowie 4-Aminopyridin (Fampridin, Fampyra®) zur Verbesserung der Gehfähigkeit.

Quellen

1. DGN/KKNMS Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS Online-Version, Stand: 17.07.2012 unter www.dgn.org (Zugriff am 30.7.2012).

2. Multiple Sklerose (MS): Neue Leitlinie online verfügbar. S2e-Niveau sichert Qualität bei Diagnose und Therapie der MS. Pressemitteilung des KKNMS und der DGN vom 18. April 2012.

3. Polman CH, et al. Diagnostic criteria for multiple sclerosis: 2010 revisions to the McDonald criteria. Ann Neurol 2011;69:292–302.

4. Klotz L, et al. Diagnostik der Multiplen Sklerose 2010 Revision der McDonald-Kriterien. Nervenarzt 2011;82:1302–9.

Arzneimitteltherapie 2012; 30(09)