Prof. Dr. Rudolf Mies, Köln Generalsekretär der Walter Siegenthaler Gesellschaft
Individualisierte Therapiestrategien: Fakt oder Fiktion?
„Individualisierte Therapiestrategien – wo stehen wir heute?“ Diese Frage wurde in einem Symposium der Walter-Siegenthaler-Gesellschaft für Fortschritte in der Inneren Medizin (ehemals Ludwig-Heilmeyer-Gesellschaft) am 6. April 2013 im Rahmen der 119. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden diskutiert. Definiert man den Begriff der „individualisierten Medizin“ als eine auf die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse einzelner Menschen abgestimmte therapeutische Grundausrichtung, so klingt dies auf den ersten Blick durchaus verheißungsvoll. Dies gilt umso mehr in einem Umfeld, in welchem Ärzten unter zunehmenden ökonomischen Zwängen die Zeit für die Zuwendung zum Patienten mehr und mehr fehlt. Unter der Flagge der individualisierten oder personalisierten Medizin segelt bereits seit geraumer Zeit auch der hoffnungsvolle Wissenschaftszweig der Pharmakogenetik. Dieser beschäftigt sich im Kern damit, den Ursachen eines interindividuell unterschiedlichen Ansprechens auf verschiedenste Pharmaka auf die Spur zu kommen – vorzugsweise durch die Aufdeckung genetischer Polymorphismen, welche die unterschiedliche Wirkung oder Verstoffwechselung von Arzneimitteln erklären können.
Genetisch verankerte Enzymausstattung
Am Beispiel sogenannter Prodrugs – also Arzneimitteln, welche im menschlichen Körper mit enzymatischer Hilfe zuallererst noch in ihre aktive Form umgewandelt werden müssen – lässt sich der potenzielle Nutzen dieses Forschungsgebiets gut verdeutlichen. So kann es beispielsweise sein, dass das Analgetikum Codein mangels entsprechender Enzymausstattung eines Patienten überhaupt nicht in seinen aktiven Metaboliten Morphin überführt wird – für entsprechende Patienten eine im wahrsten Sinne des Wortes schmerzliche Erfahrung. Nicht minder gravierend kann sich ein genetisch verankerter Überbesatz an Enzymen auswirken. Bei sogenannten Hypermetabolizern können die benötigten aktiven Metaboliten dann binnen kürzester Zeit in solch hohen Mengen anfallen, dass die Folgen im Extremfall tödlich sind.
Dosisvariabilität von Vitamin-K-Antagonisten
So bestechend das Konzept einer pharmakogenetisch basierten, personalisierten Medizin im Grundsatz auch anmuten mag, die therapeutisch nutzbaren Früchte sind bislang nicht sehr üppig, räumte Eichelbaum ein. So herrscht in vielen Fachbereichen – nicht zuletzt auch im onkologischen Umfeld – derzeit in weiten Teilen noch das Prinzip Hoffnung.
Gerade vor diesem Hintergrund hält es der Kölner Medizinethiker Prof. Dr. Klaus Bergdolt für einen schweren Fehler, in dem neuen Ansatz bereits den Durchbruch zu sehen. Weil die Theorie der individualisierten Medizin den Menschen zudem ausschließlich als biologistisch determiniertes Wesen auffasse, berge der ohnehin unglücklich gewählte Begriff das Risiko, das aus den Augen zu verlieren, wofür Begriffe wie Person und Individuum doch eigentlich stehen: den gesamten Menschen mit all seinen psychischen und sozialen Merkmalen.
Warnung vor biologistischer Reduktion
So bestechend das Konzept einer pharmakogenetisch basierten, personalisierten Medizin im Grundsatz auch anmuten mag, die therapeutisch nutzbaren Früchte sind bislang nicht sehr üppig, räumte Eichelbaum ein. So herrscht in vielen Fachbereichen – nicht zuletzt auch im onkologischen Umfeld – derzeit in weiten Teilen noch das Prinzip Hoffnung.
Gerade vor diesem Hintergrund hält es der Kölner Medizinethiker Prof. Dr. Klaus Bergdolt für einen schweren Fehler, in dem neuen Ansatz bereits den Durchbruch zu sehen. Weil die Theorie der individualisierten Medizin den Menschen zudem ausschließlich als biologistisch determiniertes Wesen auffasse, berge der ohnehin unglücklich gewählte Begriff das Risiko, das aus den Augen zu verlieren, wofür Begriffe wie Person und Individuum doch eigentlich stehen: den gesamten Menschen mit all seinen psychischen und sozialen Merkmalen.
„Der vollkommen reparable Mensch – eine Fiktion seit der Antike“
„Letztlich führt der Grundgedanke der personalisierten Medizin zum technisch vollkommen reparablen Menschen – eine Fiktion seit der Antike.“ Keinesfalls dürfe die Medizin aus dem Schlagwort der personalisierten Medizin „die semantisch propagierte anthropologische Reduktion auf das rein Molekularbiologische ableiten“, warnte Bergdolt. Mit der Kölner Medizinethikerin Prof. Dr. Christiane Woopen, derzeit Vorsitzende des nationalen Ethikrates, lassen sich die beiden Extrempole der Diskussion um Chancen und Risiken der individualisierten Medizin mit folgender Frage noch einmal zuspitzen: „Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies des medizinischen Fortschritts gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt?“
Für den Präsidenten der Walter-Siegenthaler-Gesellschaft – Prof. Dr. Erland Erdmann – stellt sich vor dem genannten Hintergrund diese Frage: „Wird unter dem Schlagwort der individualisierten Medizin möglicherweise unter falscher Flagge gesegelt?“
Arzneimitteltherapie 2013; 31(05)