Fortschritte in der Migräne-Therapie


Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

Die Migräne galt bis vor 30 Jahren als eine Modekrankheit überkandidelter Frauen mit hysterischem Hintergrund. Paradigmatisch ist der Satz in Erich Kästners Pünktchen und Anton, wenn es heißt, Frau Direktor hat Migräne: Migräne ist, wenn man eigentlich gar keine Kopfschmerzen hat. Der wissenschaftliche Weg von den vermeintlich eingebildeten Kopfschmerzen zu einer biologischen Erkrankung des Gehirns war weit. Den Durchbruch brachten vor 25 Jahren die Triptane. Es war zum ersten Mal gelungen, basierend auf biologischen Erkenntnissen zu Serotonin-Rezeptoren in den Wänden von hirnversorgenden Gefäßen, eine neue Arzneimittelgruppe zu entwickeln, die spezifisch bei der Migräne wirksam war und bei anderen Kopfschmerzen wie Spannungskopfschmerzen nicht wirkte. Im Vergleich mit den bis dahin verfügbaren Arzneimitteln wie „einfachen“ Analgetika und Mutterkornalkaloiden war diese Arzneimittelgruppe jetzt deutlich wirksamer und hatte fast keine unerwünschten Wirkungen. Für viele von Migräne schwer betroffene Patienten ergaben sich ganz neue Lebensperspektiven, da sie jetzt nicht mehr wie früher ein oder zwei Tage am Stück in einem verdunkelten Raum mit heftigem Erbrechen und unerträglichen Kopfschmerzen leiden mussten.

Seitdem gibt es rasante Fortschritte in der Forschung zur Biologie der Migräne. In der Zwischenzeit zeigt sich eindeutig, dass die Migräne primär eine Erkrankung von schmerzmodulierenden Systemen im Gehirn ist und nicht – wie früher vermutet – ausschließlich durch eine Dilatation von Gefäßen in der Dura und an der Schädelbasis zustande kommt. Anfang der 1990er-Jahre wurden dann auch zunehmend andere Neurotransmitter auf ihre Bedeutung bei der Migräne untersucht. Es zeigte sich, dass während Migräneattacken beispielsweise Substanz P ausgeschüttet wird. Arzneimittel, die gezielt diese Ausschüttung von Substanz P hemmten, waren allerdings zur Behandlung akuter Migräneattacken nicht wirksam. In der Folgezeit wurde im venösen Blut der Jugularis während Migräneattacken eine erhöhte Konzentration von CGRP (Calcitonin gene-related peptide) gefunden. Die Konzentration von CGRP nahm dramatisch ab, wenn eine Migräneattacke erfolgreich mit subkutanem Sumatriptan behandelt wurde. Es zeigte sich dann aber, dass es fast unmöglich ist, tierexperimentelle Befunde mit CGRP zu erheben, da sich der CGRP-Rezeptor bei Nichtprimaten so erheblich vom CGRP-Rezeptor beim Menschen unterscheidet, dass hier pharmakologische Experimente nicht durchgeführt werden konnten.

Der nächste logische Schritt war, Substanzen zu entwickeln, die den CGRP-Rezeptor blockieren. Wenig erstaunlich waren diese Substanzen dann zur Behandlung akuter Migräneattacken wirksam und hatten geringe unerwünschte Wirkungen. Da die CGRP-Antagonisten nicht vasokonstriktiv wirksam sind, schienen sie ideale Migränemittel bei Patienten zu sein, bei denen aufgrund von vaskulären Begleiterkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall Triptane kontraindiziert sind. Es wurden mehrere CGRP-Antagonisten entwickelt, die alle in klinischen Prüfungen gegenüber Placebo bei der Behandlung akuter Migräneattacken überlegen waren und eine ähnliche Wirksamkeit wie Triptane hatten. Die amerikanische Zulassungsbehörde verlangte dann aber Langzeit-Studien, bei denen diese Arzneimittel täglich eingenommen wurden. Hintergrund war die Erfahrung, dass fast alle Schmerz- und Migränemittel von einer kleinen Minderheit von Migränepatienten häufig und zum Teil täglich genommen werden. Man wollte herausfinden, ob diese Substanzen – ähnlich wie die Triptane und Mutterkornalkaloide – zu medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzen führen könnten. Bei der täglichen Gabe tauchten dann aber die ersten Probleme auf, da einige Patienten deutlich erhöhte Leberwerte hatten. Daraufhin wurde die gesamte Entwicklung der CGRP-Antagonisten eingestellt.

Der therapeutische Ansatz, CGRP zu beeinflussen, wurde jedoch nicht aufgegeben. Vier Pharmafirmen entwickelten in der Folgezeit monoklonale humanisierte Antikörper gegen zirkulierendes CGRP. Damit sollte dieser Neurotransmitter, der extrem vasodilatatorisch wirkt, antagonisiert werden. Die Antikörper sind so groß, dass sie die Bluthirnschranke nicht überwinden können und damit keine zentrale Wirkung haben. Dies ist wichtig, da CGRP-Rezeptoren und CGRP selbst ubiquitär im Gehirn vorhanden sind mit der größten Dichte im Kleinhirn. In der Folgezeit zeigte sich dann zunächst in kleinen Phase-II- und später auch in Dosis-Findungsstudien, dass die Antikörper gegen CGRP zur Prophylaxe der Migräne wirksam sind. Der absolute Wirkungsunterschied zu Placebo ist allerdings nicht sehr groß. Dies mag daran liegen, dass diese Substanzen parenteral gegeben werden und Migränemittel, die injiziert werden, immer einen höheren Placebo-Effekt hervorrufen als Migränemittel beziehungsweise Migräneprophylaktika, die oral gegeben werden. Sollte es tatsächlich der Fall sein, dass diese Migräneprophylaktika etwas weniger wirksam sind als die bisher verwendeten Betablocker, Calciumantagonisten, Amitriptylin und die Antiepileptika Valproinsäure und Topiramat, wäre ihr großer Vorteil, dass sie fast keine unerwünschte Wirkungen aufweisen. Unbekannt ist allerdings bisher, wie häufig bei einer Langzeit-Anwendung dieser CGRP-Antikörper der menschliche Organismus eigene Antikörper gegen den therapeutischen Antikörper produziert und ob es dann zu einem Wirkungsverlust oder zu einer anaphylaktischen Reaktion kommt. Dessen ungeachtet haben für die meisten neuen Substanzen die großen Phase-III-Studien zur Prophylaxe von Migräne und Cluster-Kopfschmerz begonnen. Sollten die Substanzen dort wirksam sein und sollte sich das Nebenwirkungsprofil bestätigen, hätten wir eine weitere wirksame und nebenwirkungsarme Prophylaxe der Migräne zur Verfügung.

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