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Arzneimitteltherapie 2017;35:120–1.
AMT: Venetoclax hat eine bedingte Zulassung zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) erhalten, bei denen eine 17p-Deletion oder TP53-Mutation vorliegt und andere Therapien nicht geeignet sind oder versagten oder – wenn diese Mutationen nicht vorliegen – nach Versagen von Chemoimmuntherapie und B-Zell-Rezeptor-Signalweg-Inhibitoren. Welche Therapieoptionen standen diesen Patienten bislang zur Verfügung?
SSt: Für die Patientengruppen, für die Venetoclax jetzt zugelassen wurde, stand bislang keine sinnvolle Therapieoption zur Verfügung. Bei Patienten mit 17p-Deletion oder TP53-Muation wissen wir, dass eine Chemoimmuntherapie – also der normale Therapiestandard – nicht wirksam ist. Für diese Patienten sind seit einiger Zeit Ibrutinib oder auch Idelalisib kombiniert mit Rituximab verfügbar. Diese Medikamente sind aber bei manchen Patientengruppen schlecht einsetzbar oder haben Nebenwirkungen. Dazu gehören beispielsweise Blutungsereignisse, Vorhofflimmern oder Diarrhö. Gerade für diese Patienten ist es gut, wenn wir Therapiealternativen zur Verfügung haben. Hier kommt Venetoclax sehr gelegen.
Bei Patienten mit 17p-Deletion oder TP53-Mutation kommt es relativ häufig zu einem Therapieversagen beispielsweise von Ibrutinib, sodass danach weitere Optionen erforderlich sind. Hier ist Venetoclax nach Ibrutinib sehr wertvoll.
Die zweite Gruppe von Patienten, für die die Zulassung erfolgt ist, besteht aus Patienten, bei denen eine Chemotherapie versagt hat, dann Ibrutinib oder Idelalisib eingesetzt wurde, und auch hier kein zufriedenstellender Therapieerfolg mehr erreicht werden konnte. Das waren letztlich Patienten, für die es bislang gar keine sinnvolle Therapieoption gab, sodass Venetoclax hier von besonderer Bedeutung ist.
Zusammengenommen:
- Sowohl in der Primärtherapie bei 17p-Deletion/TP53-Mutation für ausgewählte Patienten, bei denen Ibrutinib oder Idelalisib nicht infrage kommen,
- in der Zweitlinientherapie nach Ibrutinib- oder Idelalisib-Versagen bei Patienten mit 17p-Deletion/TP53-Mutation, oder
- in der dritten Therapielinie bei Patienten auch ohne 17p-Deletion/TP53-Mutation nach Chemoimmuntherapie- und BCR-Inhibitor-Versagen
bietet Venetoclax eine extrem sinnvolle Erweiterung des therapeutischen Spektrums.
AMT: Was ist das Besondere an Venetoclax?
SSt: Das Besondere an Venetoclax ist, dass wir hier eine vollkommen neuartige Klasse von Medikament vor uns haben: ein Medikament, das gezielt einen biologischen Mechanismus – die Expression von BCL2, einem prominenten antiapoptotischen Molekül in den Krebszellen – angreift. Es handelt sich um einen völlig neuen biologischen Ansatz (ein sogenanntes First-in-Class-Medikament), das ein Therapieprinzip aufgreift, das bisher noch nicht bestand. Das illustriert auch, warum das Medikament so wichtig ist: weil wir damit ein neues Therapieprinzip haben, wenn Patienten auf das Prinzip der Chemotherapie nicht ansprechen und andere gezielte Therapien wie BCR-Signalweg-Inhibitoren auch nicht mehr wirken. Dann kann man eine andere „Achillesferse“ der Krebszelle ins Visier nehmen und damit – wie man an den Studiendaten sieht – auch große Erfolge bei guter Verträglichkeit erzielen.
AMT: In den beiden zulassungsrelevanten Studien waren die Ansprechraten der Patienten mit 79% beziehungsweise 64% recht hoch. Allerdings handelt es sich um einarmige, nicht randomisierte Phase-II-Studien mit relativ wenigen Patienten – was sicher auf das kleine Patientenkollektiv in dieser Situation zurückzuführen ist. Wie bewerten Sie das Design der zulassungsrelevanten Studien? Wie aussagekräftig können solche kleinen Studien sein?
SSt: In der Tat: Die Zulassungsstudien haben in extrem schwierig zu behandelnden Patientenkollektiven sehr gute Wirksamkeitsdaten und auch sehr gute Verträglichkeit gezeigt. Es waren beides einarmige Phase-II-Studien, die zur Zulassung geführt haben – mit relativ überschaubaren Patientenzahlen. Dass diese Daten dennoch zur Zulassung der Substanz durch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA und die EMA geführt haben, zeigt, wie groß der Druck war, für diese Patienten neue Behandlungen zu finden. Die Zulassung basierend auf einer Phase-II-Studie ist vertretbar, weil wir für diese Patienten gar keine Standardtherapie zur Verfügung gehabt hätten, um ein Phase-III-Design zu ermöglichen. Für die Patienten in den Studien war es letztlich die einzig sinnvolle Therapieoption, sodass die überzeugenden Wirksamkeitsdaten im historischen Vergleich aus diesen Phase-II-Studien sogar zur Zulassung geführt haben. Darüber hinaus sind jetzt auch Phase-III-Studien aktiv, sogar in der Primärtherapie für alle Patienten mit CLL, aber auch bei anderen Tumorentitäten.
AMT: Die Zulassung wurde unter der Auflage erteilt, dass weitere Daten aus dem laufenden Studienprogramm vorgelegt werden. Wann ist mit Ergebnissen aus den Phase-III-Studien zu rechnen?
SSt: Es laufen bei der CLL verschiedene Phase-III-Studienprogramme, unter anderem die CLL14-Studie der Deutschen CLL-Studiengruppe. Sie vergleicht bei älteren, komorbiden Patienten mit CLL in der Primärtherapie den bisherigen Standard Obinutuzumab plus Chlorambucil gegen Obinutuzumab plus Venetoclax. Die Sicherheitsdaten aus der „Safety-Run-in“ dieser Studie sind in Abstract-Form bei Kongressen vorgestellt worden. Bis der primäre Endpunkt der Studie ausgewertet und publizierbar sein wird, werden wir wahrscheinlich noch zwei Jahre warten müssen. Aber die bislang vorliegenden Sicherheitsdaten aus der „Safety-Run-in“ zeigen schon, dass es eine sehr gut machbare Therapie ist, die auch zu exzellenter Wirksamkeit führt.
AMT: Es gab am Anfang der Studien einige wenige Fälle des Tumorlysesyndroms (TLS), dem man durch die langsame Aufdosierung und sorgfältige Überwachung der Patienten entgegenwirken will. Wie sieht diese Überwachung im Alltag aus? Wie ist außerdem die Sicherheit zu beurteilen? Kann man das Nutzen-Risiko-Profil zum jetzigen Zeitpunkt schon ausreichend bewerten?
SSt: Die wichtigste mögliche Nebenwirkung, auf die wir achten müssen, ist in der Tat der großen Wirksamkeit des Medikaments geschuldet: Das ist das Tumorlysesyndrom, verursacht durch einen zu raschen, sehr abrupten Zerfall der Tumorzellen, den wir durch diese extrem gute Wirksamkeit erzielen. Um den Therapiestart, bei dem dieses Thema besonders relevant ist, sicher zu machen, ist ein spezielles Programm implementiert worden: mit Prophylaxe mittels Hydrierung, Allopurinol, teilweise durch Rasburicase-Gabe und mithilfe einer Überwachung der Laborwerte. Mit diesen Maßnahmen ist der Therapiestart in allen damit durchgeführten Studien sicher machbar gewesen. Aufgrund der bislang vorliegenden Daten aus klinischen Studien ist in der derzeitigen Anwendung das Nutzen-Risiko-Profil klar positiv.
AMT: Sie sind selbst Prüfarzt im klinischen Studienprogramm von Venetoclax. Wie ist Ihre persönliche Erfahrung mit Venetoclax?
SSt: Meine persönliche Erfahrung reflektiert die Daten aus den Studien sehr gut. Die Patienten, die wir in den zulassungsrelevanten Studien mit der Substanz behandelt hatten, waren Patienten, für die es letztlich keine sinnvolle Therapieoption mehr gab und die mit diesem Medikament einen dramatischen Benefit hatten. Der Therapiestart, beziehungsweise die TLS-Überwachung, ist letztlich das Einzige, das im klinischen Alltag für die Patienten einen gewissen Aufwand darstellt – und natürlich auch für die Prüfärzte beziehungsweise Behandler. Wenn man über diese frühe Phase der Behandlung hinaus ist, ist die Therapie extrem gut anwendbar, quasi ohne Nebenwirkungen und regelmäßige oder aufwendige Überwachungsmaßnahmen.
AMT: Wie beurteilen Sie zusammenfassend den klinischen Stellenwert von Venetoclax bei CLL?
SSt: Aus wissenschaftlicher Sicht ist es extrem eindrucksvoll, dass hier ein vollkommen neuartiges Therapieprinzip wirklich den Praxistest in den Studien bestanden hat, was zur erstmaligen Zulassung eines derartigen Medikaments geführt hat. Dieser neue Therapieansatz ist ein wichtiger Baustein in unserem therapeutischen Spektrum bei der CLL – neben der Chemoimmuntherapie, neben den BCR-Signalweg-Inhibitoren. Bei der CLL sind jetzt schon Studien bezüglich der Rekrutierung abgeschlossen, die den Weg in die Primärtherapie für die Substanz suchen. Darüber hinaus sind Studien mit Venetoclax bei verschiedenen anderen Entitäten, beispielsweise Lymphomen, aber z. B. auch beim Mammakarzinom, in der Entwicklung, um die Substanz in Zukunft eventuell auch bei anderen Tumorentitäten noch wesentlich breiter anwenden zu können.
AMT: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
SSt: Ich danke Ihnen.
Interessenkonflikterklärung
SSt gibt an, Honorare für Beratung, Teilnahme an einem Expertenbeirat, Vorträge, Stellungnahmen oder Artikel, Forschungsbeihilfe oder sonstige Unterstützung (z.B. Ausrüstung, Personal, Unterstützung bei der Ausrichtung einer Veranstaltung) von AbbVie, Amgen, Boehringer-Ingelheim, Celgene, Genentech, Genzyme, Gilead, GSK, Janssen-Cilag, Mundipharma, Novartis, Pharmacyclics, Hoffmann La-Roche und Sanofi erhalten zu haben.
Prof. Dr. med. Stephan Stilgenbauer, Zentrum für Innere Medizin, Klinik für Innere Medizin III, Albert-Einstein-Allee 23, 89081 Ulm, E-Mail: stephan.stilgenbauer@uniklinik-ulm.de
Arzneimitteltherapie 2017; 35(04)