Dr. Barbara Ecker-Schlipf, Holzgerlingen
Jedes Jahr werden etwa 1,4 Millionen Frauen mit einer HIV-Infektion schwanger, davon werden 1,1 Millionen antiretroviral behandelt. Ohne eine Therapie stecken sich 15 bis 45% der Kinder von HIV-infizierten Müttern vor, während oder nach der Geburt mit dem Virus an. Unter mehreren Optionen, die vertikale Transmission zu verringern, ist eine kombinierte antiretrovirale Therapie am effektivsten. Wird eine solche Kombinationstherapie vor dem dritten Trimenon eingeleitet, kann die vertikale Übertragungsrate auf unter 5 pro 1000 Geburten gesenkt werden. Die meisten antiretroviralen Kombinationsstrategien enthalten als „Rückgrat“ zwei nukleosidische oder nukleotidische Reverse Transkriptase-Inhibitoren (NRTIs) in Kombination mit einer dritten antiviralen Substanz, die oft einen anderen Wirkungsmechanismus aufweist.
Als Mittel der Wahl bei einer HIV-Infektion in der Schwangerschaft wird derzeit in mehreren Richtlinien eine NRTI-Kombination aus Tenofovir und Emtricitabin empfohlen. Tenofovir, in der Regel mit Emtricitabin kombiniert, wird weltweit am häufigsten eingesetzt.
Einige retrovirale Substanzen, darunter Tenofovir und Lamivudin, zeigen auch eine Aktivität gegen das Hepatitis-B-Virus (HBV). Besonders in Gebieten, in denen das HBV endemisch auftritt, kommt eine Koinfektion bei HIV-infizierten Schwangeren häufig vor. Eine vertikale Transmission von HBV tritt in Gegenden, wo keine Prophylaxemöglichkeiten vorhanden sind, bei 38% der Kinder auf, die von HIV-infizierten Frauen auf die Welt gebracht werden. Dagegen kann die Übertragungsrate auf etwa 1% reduziert werden, wenn frühzeitig Hepatitis-B-Immunglobulin und eine Hepatitis-B-Impfung eingesetzt werden.
Tenofovir/Emtricitabin versus Zidovudin/Lamivudin …
Anhand der Richtlinien von GRADE (the grading of recommendations assessment, development and evaluation) und des Empfehlungsprozesses des BMJ (British Medical Journal) für die Anwendung von Arzneistoffen wurden zur Aufstellung von antiretroviralen Therapieempfehlungen für HIV-infizierte Schwangere zwei systematische Reviews auf folgende Fragen überprüft:
- Wie sieht das relative Nutzen/Risiko-Verhältnis von verschiedenen NRTI-Strategien bei HIV-infizierten Schwangeren aus?
- Welche Indizien belegen die Bewertung und Präferenzen von Frauen, die eine antiretrovirale Therapie erwägen?
Ziel war es, Empfehlungen für die optimale Auswahl einer kombinierten antiretroviralen Therapie aufzustellen, welche die Bewertungen und Präferenzen der Patienten, die Balance zwischen erwünschten und unerwünschten Wirkungen, Unsicherheiten und die praktische Umsetzung berücksichtigten.
Die Studienkommission, die sich neben Experten auch aus drei HIV-infizierten Frauen zusammensetzte, zog insbesondere die PROMISE-Studie als Hauptquelle zur Auswertung heran. In dieser Studie wurden 816 mit HIV infizierte Afrikanerinnen, die mindestens in der 14. Woche schwanger waren, randomisiert entweder mit Tenofovir/Emtricitabin oder Zidovudin/Lamivudin behandelt. Beide Gruppen erhielten zusätzlich eine Kombination bestehend aus den Proteaseinhibitoren Lopinavir/Ritonavir verbreicht – bis zum dritten Trimenon in einer Standarddosis, die anschließend bis zur Geburt um 50% erhöht wurde.
… erhöht die Sterblichkeit
Gestützt auf die Auswertung der systematischen Reviews schloss die Studienkommission mit einer gewissen Sicherheit, dass die Kombination Tenofovir/Emtricitabin, wenn sie in der von der PROMISE-Studie benutzten Dosis eingesetzt wird, im Vergleich zu Zidovudin/Lamivudin die Wahrscheinlichkeit für eine Totgeburt oder frühe neonatale Mortalität sowie für eine Frühgeburt vor der 34. Gestationswoche erhöht:
- Totgeburt oder frühe neonatale Mortalität in Ländern mit unzureichender oder moderater medizinischer Versorgung: 304 vs. 69 Ereignisse pro 1000 Personen
- Totgeburt oder frühe neonatale Mortalität in Ländern mit guter medizinischer Versorgung: 66 vs. 15 Ereignisse pro 1000 Personen
- Frühgeburt vor der 34. Gestationswoche: 74 vs. 32 Ereignisse pro 1000 Personen
Die Sicherheit für ein solch erhöhtes Risiko wird größer, wenn Tenofovir/Emtricitabin in Kombination mit Lopinavir/Ritonavir verabreicht wird.
Signifikante Unterschiede zwischen Tenofovir und Lamivudin im Hinblick auf die Verhinderung einer vertikalen Übertragung von Hepatitis B wurden nicht festgestellt; allerdings ist die Aussagekraft dieses Ergebnisses bislang nur klein.
Während Tenofovir/Emtricitabin in der Regel einmal täglich verabreicht werden, müssen Zidovudin/Lamivudin zweimal täglich eingenommen werden. Antiretrovirale Wirkstoffe werden darüber hinaus häufig in einer einzigen Tablette koformuliert, um die Einnahme zu erleichtern und die Compliance zu fördern. Tenofovir/Emtricitabin sind mit verschiedenen anderen retroviralen Substanzen in einer einzigen koformulierten Tablette auf dem Markt erhältlich, Zidovudin/Lamivudin hingegen stehen nicht in einer koformulierten, einmal täglich zu verabreichenden Form zur Verfügung. Somit könnten Behandlungsregime, die sich auf Tenofovir stützen, einfacher anzuwenden sein.
Allerdings zeigte sich, dass nahezu alle in die Studien einbezogenen Frauen extrem großen Wert darauf legten, eine Frühgeburt oder den Tod des ungeborenen Kindes zu verhindern. Die meisten erachteten die Belastung aufgrund der Medikamenteneinnahme, insbesondere auch den möglichen Unterschied zwischen einer ein- oder zweimaligen täglichen Einnahme, als nicht sehr wichtig. Allerdings stellten mögliche Nebenwirkungen einer HIV-Therapie für das Ungeborene für einige Frauen eine Barriere für die Einnahme antiretroviraler Substanzen dar.
Weltweit differieren antivirale Therapieoptionen, die zur Verfügung stehen und unter denen betroffene Frauen auswählen können, ganz erheblich. Am häufigsten verfügbar und eingesetzt wird die Kombination von Tenofovir mit Emtricitabin oder Lamivudin, obwohl die Kombination Zidovudin/Lamivudin älter und billiger wäre.
Die vorliegenden Empfehlungen nehmen eine Perspektive ein, die auf den Patienten fokussiert ist. Deshalb können Richtlinien, welche sich am Blickwinkel des öffentlichen Gesundheitswesens orientieren und Ressourcen mit einbeziehen, wie es die WHO (World Health Organization) tut, anders ausfallen. Die WHO empfiehlt beispielsweise derzeit für alle HIV-infizierten Erwachsenen eine einzige Tablettenkombination von Tenofovir/Emtricitabin plus Efavirenz als antivirale First-Line-Kombination.
Fazit der Studienautoren
Möglichst viele, am besten alle HIV-infizierte Schwangere, sollten die Möglichkeit erhalten, über Nutzen und Risiken aller verfügbaren antiretroviralen Therapieoptionen informiert zu werden. Aus Sicht der Studienkommission gibt es Anhaltspunkte, dass die Kombination aus Zidovudin/Lamivudin der aus Tenofovir/Emtricitabin hinsichtlich Frühgeburt und neonataler Sterblichkeit leicht überlegen ist. Allerdings sollten Nutzen/Risiko-Verhältnis, Serumspiegel, Wechselwirkungen und Wirkungsmechanismen antiretroviraler Substanzen in der Schwangerschaft dringend in weiteren randomisierten, kontrollierten Studien untersucht werden.
Quelle
Siemieniuk RAC, et al. Antiretroviral therapy in pregnant women living with HIV: a clinical practice guideline. BMJ 2017;358:j3961, doi:10.1136/bmj.j3961.
Arzneimitteltherapie 2018; 36(03):80-109