Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Klinische Bedeutung
Alle Antikoagulanzien haben das Risiko, schwerwiegende Blutungskomplikationen zu bewirken. Dieses Risiko beträgt 1 bis 3 % pro Patient und Jahr. Am häufigsten sind gastrointestinale Blutungen und intrakranielle Blutungen. Die Prognose ist hierbei extrem unterschiedlich: Die Sterblichkeit einer gastrointestinalen Blutung unter Antikoagulanzien beträgt 2 bis 3 % und die bei intrakraniellen Blutungen 35 bis 45 %. Die beste Strategie ist natürlich, Blutungen zu vermeiden. Große Register mit 285 292 antikoagulierten Patienten in den USA zeigten, dass eine Behandlung mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) zu niedrigeren Häufigkeiten von Schlaganfall und systemischer Embolie verglichen mit Warfarin führt. Das Blutungsrisiko war für Apixaban und Dabigatran im Vergleich zu Warfarin erniedrigt und für Rivaroxaban im Vergleich zu Warfarin erhöht [7].
Bisher erfolgte die Therapie von Blutungen neben den allgemeinen Maßnahmen wie Flüssigkeitszufuhr, Bluttransfusionen und lokaler Blutstillung durch die Gabe von Prothrombinkomplex (PCC) in Dosierungen von 50 Einheiten/kg Körpergewicht [9]. Die DOAK haben eine kurze Halbwertszeit, sodass bei leichteren und mittelschweren Blutungen sowie bei operativen Eingriffen, die nicht sofort notwendig sind, abgewartet werden kann.
Die schlechte Prognose intrazerebraler Blutungen rührt daher, dass es bei etwa 50 % der Patienten zu einer sekundären Größenzunahme der initialen Blutung kommt. Ziel müsste es daher sein, dieses Hämatomwachstum durch hämostatische Maßnahmen zu reduzieren oder zu verhindern. Registerdaten aus Deutschland legen allerdings nahe, dass dies bei DOAK-induzierten intrazerebralen Blutungen mit PCC nicht sehr gut gelingt [5]. Daher war es extrem wichtig, spezifische Gegenmittel für direkte Thrombinantagonisten (Dabigatran) in Form von Idarucizumab und für die Faktor-Xa-Hemmer Andexanet alfa zu entwickeln.
Die ANNEXA-4-Studie war zunächst eine relativ kleine Studie, die 67 Patienten mit Blutungskomplikationen unter Apixaban oder Rivaroxaban einschloss [1]. Bezüglich des klinischen Endpunkts Hämostase war Adexanet alfa wirksam. Die meisten thromboembolischen Komplikationen traten mit deutlicher zeitlicher Verzögerung nach der Gabe von Andexanet alfa auf. Wahrscheinlich beruhten diese Ereignisse bei den meisten Patienten auf der Tatsache, dass nach der initialen schweren Blutung die Antikoagulation nicht wieder aufgenommen wurde.
Die endgültigen Studienergebnisse der ANNEXA-4-Studie bezogen sich auf 352 Patienten, die unter Behandlung mit einem Faktor-Xa-Hemmer eine schwerwiegende Blutung erlitten. Die Mehrheit der Patienten hatten eine intrakranielle Blutung (64%). Die meisten intrazerebralen Blutungen waren relativ klein (< 10 cm). Leider sind in der Publikation die Sterblichkeiten für die einzelnen Subgruppen nicht angegeben. Am Ende der Bolusgabe von Andexanet alfa war die Anti-FXa-Aktivität um 92% gesunken. Sie stieg aber bis zum Ende der zweistündigen Infusion wieder und die Reduktion betrug nur noch 32–42 % [2].
Aus offensichtlichen Gründen war ANNEXA-4 eine offene Studie ohne Kontrollgruppe. Es wäre ethisch nicht zu vertreten, Patienten mit schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Blutungen mit Placebo zu behandeln. Derzeit läuft eine weitere Studie bei Patienten mit intrakraniellen Blutungen, in der Andexanet alfa mit Standard of Care verglichen wird (NCT 03661528). Standard of Care beiinhaltet auch eine Therapie mit PCC.
Bisher liegen keinerlei Daten zum Einsatz von Andexanet alfa bei Patienten vor, bei denen dringende Operationen oder Prozeduren durchgeführt werden müssen. Dazu zählt auch der Einsatz einer systemischen Thrombolyse bei Patienten, die unter Antikoagulation einen ischämischen Schlaganfall erleiden. Zu beiden Patientengruppen gibt es Ergebnisse für Idarucizumab bei Patienten, die mit Dabigatran behandelt werden [4, 6, 8].
Die Aufbereitung von Andexanet alfa in der Notaufnahme ist sehr kompliziert und zeitaufwendig [3]. Im Gegensatz dazu ist Idarucizumab als Fertiginfusion verfügbar.
Das größte Hindernis für den Einsatz von Andexanet alfa dürfte der Preis sein. In den USA betragen die Kosten für die niedrige Dosis 24 000 US-Dollar und für die hohe Dosis 49 000 US-Dollar. In Deutschland liegen die Kosten für Idarucizumab etwa auf demselben Niveau wie für PCC (etwa 2000 Euro).
Im Moment ist schwer vorstellbar, dass der gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) Andexanet alfa einen Zusatznutzen attestiert, mit dem der US-Preis in den Verhandlungen mit den deutschen Krankenkassen erzielt werden kann. Dazu müsste eine klare Überlegenheit zu PCC belegt werden.

Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Seniorprofessor für Neurowissenschaften, Herausgeber der „Arzneimitteltherapie“.
Interessenkonflikterklärung
Prof. Dr. H.C. Diener hat Honorare für Teilnahme an klinischen Studien, Mitarbeit in Advisory Boards und Vorträge erhalten von: Abbott, Allergan, AstraZeneca, Bayer Vital, Bristol-Meyers-Squibb, Boehringer Ingelheim, BrainsGate, CoAxia, Corimmun, Covidien, Daiichi-Sankyo, D-Pharm, Fresenius, GlaxoSmithKline, Janssen Cilag, Lilly, Lundbeck, Medtronic, MSD, MindFrame, Neurobiological Technologies, Novartis, Novo-Nordisk, Paion, Parke-Davis, Pfizer, Portola, Sanofi-Aventis, Schering, Servier, Solvay, St-Jude, Syngis, Tacrelis, Thrombogenics, Wyeth und Yamanouchi. Forschungsprojekte der Universitätsklinik für Neurologie in Essen wurden unterstützt von: AstraZeneca, GSK, Boehringer Ingelheim, Novartis, Janssen-Cilag und SanofiAventis. Die Universitätklinik für Neurologie hat Forschungsmittel von den folgenden Institutionen erhalten: DFG, BMBF, EU, NIH, EAST-AFnet, Bertelsmann Stiftung und Heinz-Nixdorf Stiftung. HC Diener besitzt keine Aktien oder Anteile von Pharmafirmen oder Medizintechnikfirmen. HC Diener war beteiligt an der Erstellung von Leitlinien der DGN, der DSG, der ESC und EHRA.
Literatur
1. Connolly SJ, et al. Andexanet alfa for acute major bleeding associated with factor Xa inhibitors. N Engl J Med 2016;375:1131–41.
2. Connolly SJ, et al. Full study report of andexanet alfa for bleeding associated with factor Xa inhibitors. N Engl J Med. 2019 Feb 7. doi: 10.1056/NEJMoa1814051. [Epub ahead of print].
3. Culbreth SE, et al. Andexanet alfa – The first 150 days. Am J Hematol 2019;94:E21–E4.
4. Diener HC, et al. Thrombolysis and thrombectomy in patients treated with dabigatran with acute ischemic stroke: Expert opinion. Int J Stroke 2017;12:9–12.
5. Gerner ST, et al. Association of prothrombin complex concentrate administration and hematoma enlargement in non-vitamin K antagonist oral anticoagulant-related intracerebral hemorrhage. Ann Neurol 2018;83:186–96.
6. Kermer P, et al. Antagonizing dabigatran by idarucizumab in cases of ischemic stroke or intracranial hemorrhage in Germany – A national case collection. Int J Stroke 2017;12:383–91.
7. Lip GYH, et al. Effectiveness and safety of oral anticoagulants among nonvalvular atrial fibrillation patients. Stroke 2018;49:2933–44.
8. Pollack CV Jr., et al. Idarucizumab for dabigatran reversal – full cohort analysis. N Engl J Med 2017;377:431–41.
9. Steffel J, et al. The 2018 European Heart Rhythm Association Practical Guide on the use of non-vitamin K antagonist oral anticoagulants in patients with atrial fibrillation: executive summary. Europace 2018;20:1231–42.
Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Medizinische Fakultät der Universität Duisburg-Essen, Essen, E-Mail: hans.diener@uk-essen.de
Arzneimitteltherapie 2019; 37(04):128-130