Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Patienten mit Vorhofflimmern haben ein hohes Schlaganfallrisiko. Dieses Risiko kann durch eine orale Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten oder direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) signifikant reduziert werden. Für Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon gibt es kein spezifisches Antidot. Für Dabigatran wurde Idarucizumab als spezifisches Antidot entwickelt. Zur Antagonisierung der Faktor-Xa-Hemmer steht Andexanet alfa zur Verfügung. Typische Indikationen für Idarucizumab sind Patienten, die während der Einnahme von Dabigatran einen ischämischen Insult erleiden und bei denen die Indikation für eine systemische Thrombolyse besteht. Weiterhin können Patienten, die unter Dabigatran eine intrakranielle Blutung erleiden, mit Idarucizumab behandelt werden. Auf diese Weise soll die Größenzunahme der Blutung verhindert oder reduziert werden. Erwartungsgemäß gibt es bisher keine randomisierten Studien zum Einsatz von Idarucizumab in den genannten Indikationen. Diese Studien wären bei intrazerebralen Blutungen auch ethisch kaum zu rechtfertigen. Daher ist man derzeit auf Fallserien angewiesen [1, 4].
Datenerhebung mit 120 Fällen
Es handelt sich um eine Datenerhebung in 61 Schlaganfallzentren in Deutschland (Tab. 1). 80 Patienten erlitten unter Dabigatran-Therapie einen ischämischen Insult und 40 Patienten eine intrakranielle Blutung, davon 27 eine intrazerebrale Blutung. Die Patienten mit ischämischen Insulten erhielten nach der Gabe von Idarucizumab eine systemische Thrombolyse mit rt-PA. Die Patienten mit intrakranieller Blutung erhielten ebenfalls Idarucizumab. Der Verlauf wurde bis zur Krankenhausentlassung dokumentiert.
Tab. 1. Studiendesign
Erkrankung |
Prävention des Schlaganfalls bei Vorhofflimmern |
Studienziel |
Wirksamkeit und Sicherheit von Idarucizumab zur Behandlung ischämischer Insulte und intrakranieller Blutungen bei Patienten mit Vorhofflimmern unter Dabigatran |
Studientyp |
Auswertung von 120 Fällen an 61 Schlaganfallzentren |
Intervention |
Idarucizumab, ggf. mit nachfolgender systemischer Thrombolyse mit rt-PA |
Sponsor |
Firmenunabhängig |
rt-PA: rekombinanter Gewebetyp-Plasminogenaktivator (Alteplase)
Ergebnisse
Die Patienten mit ischämischem Insult waren im Mittel 76 Jahre alt und hatten einen Schweregrad des Schlaganfalls auf der NIHSS von 10. Bei der Hälfte der Patienten war die aPTT (aktivierte partielle Thromboplastinzeit) zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme normal. Die Thrombinzeit (TT) war allerdings bei 91 % der Patienten als Zeichen der Wirkung von Dabigatran verlängert. Alle Patienten erhielten eine systemische Thrombolyse. 73 der 80 Patienten, entsprechend 78 %, zeigten eine Verbesserung der Schlaganfallsymptomatik auf der NIHSS von durchschnittlich sieben Punkten bis zur Krankenhausentlassung. Drei Patienten verstarben im Krankenhaus entweder aufgrund eines Mediainfarkts oder einer Lungenembolie einige Tage nach der Thrombolyse – zu einem Zeitpunkt, als noch keine Antikoagulation begonnen wurde. Blutungskomplikationen traten nicht auf.
Das mittlere Alter der Patienten mit intrakranieller Blutung betrug 77 Jahre. Die Thrombinzeit war bei allen Patienten mit einer Ausnahme verlängert. Eine Größenzunahme der Blutung in der zerebralen Bildgebung zeigte sich nur bei drei von 27 Patienten. Vier Patienten, entsprechend 15 %, verstarben. Die meisten Patienten zeigten eine klinische Besserung bis zur Krankenhausentlassung.
Kommentar
Die hier beschriebenen 120 Fälle sind eine Ergänzung einer früheren Publikation mit 31 Fällen [3]. Das Register zeigt, dass bei Patienten, die aufgrund von Vorhofflimmern mit Dabigatran behandelt werden und eine zerebrale Ischämie erleiden, nach Antagonisierung mit Idarucizumab mit hoher Sicherheit eine systemische Thrombolyse und Thrombektomie durchgeführt werden kann. Blutungskomplikationen wurden bei diesen Patienten nicht beobachtet.
Wahrscheinlich wichtiger ist die Behandlung von Patienten, die unter Dabigatran eine intrakranielle Blutung erleiden. Hier betrug nach Antagonisierung mit Idarucizumab die Sterblichkeit nur 15 % verglichen mit 36 bis 40 % in der randomisierten RE-LY-Studie [2]. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass Patienten mit großen infausten Blutungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr antagonisiert werden. Im Moment wird ein prospektives Register in Deutschland durchgeführt, bei dem Patienten erfasst werden, die unter Dabigatran eine intrakranielle Blutung erleiden – als Vergleich zu den Patienten, die im selben Zeitraum eine intrakranielle Blutung unter Phenprocoumon erlitten haben.
Quelle
Kermer P, et al. Antagonizing dabigatran by idarucizumab in cases of ischemic stroke or intracranial hemorrhage in Germany – updated series of 120 cases. Int J Stroke 2020; doi: 10.1177/1747493019895654.
Literatur
1. Giannandrea D, et al. Intravenous thrombolysis in stroke after dabigatran reversal with idarucizumab: case series and systematic review. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2019;90:619–23.
2. Hart RG, et al. Intracranial hemorrhage in atrial fibrillation patients during anticoagulation with warfarin or dabigatran: the RE-LY trial. Stroke 2012;43:1511–7.
3. Kermer P, et al. Antagonizing dabigatran by idarucizumab in cases of ischemic stroke or intracranial hemorrhage in Germany – A national case collection. Int J Stroke 2017;12:383–91.
4. Sanak D, et al. Intravenous thrombolysis in patients with acute ischemic stroke after a reversal of dabigatran anticoagulation with idarucizumab: A real-world clinical experience. J Stroke Cerebrovasc Dis 2018;27:2479–83.
Arzneimitteltherapie 2020; 38(05):200-209