Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die mechanische Thrombektomie im 24-Stunden-Zeitfenster ist Standardtherapie bei Patienten mit akutem ischämischen Insult und Verschluss der distalen Arteria carotis interna oder der proximalen Arteria cerebri media. Viele Patienten mit Vorhofflimmern sind oral antikoaguliert. Eine vorbestehende orale Antikoagulation könnte daher das Risiko intrakranieller Blutungen bei endovaskulärer Schlaganfalltherapie erhöhen. Ohne Antikoagulation beträgt das Risiko intrakranieller Blutungen nach Thrombektomie 4,4 % [1]. Unbekannt ist bisher, ob dieses Risiko tatsächlich erhöht ist und ob es einen Unterschied macht, ob die Patienten mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) oder direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) vorbehandelt sind. Dies sollte daher in einer multizentrischen Beobachtungsstudie geklärt werden.
Studiendesign
Es handelte sich um eine multizentrische internationale Kohortenstudie, die die Häufigkeit symptomatischer intrakranieller Blutungen bei Patienten untersuchte, die sich einer Thrombektomie unterzogen (Tab. 1). Verglichen wurden hierbei Patienten mit und ohne Vorbehandlung mit einer oralen Antikoagulation. Der primäre Endpunkt der Studie war die Rate symptomatischer intrakranieller Blutungen und die Gesamtsterblichkeit nach 90 Tagen. Zusätzlich wurden eine systematische Literaturrecherche und eine Metaanalyse von 14 weiteren Studien durchgeführt.
Tab. 1. Studiendesign [Meinel et al. 2020]
Erkrankung |
Akuter Schlaganfall |
Studienziel |
Risiko intrakranieller Blutungen bei mechanischer Thrombektomie bei antikoagulierten Schlaganfallpatienten |
Studientyp/Design |
Kohortenstudie, multizentrisch (plus Metaanalyse und systematische Literaturrecherche) |
Patienten |
1932 |
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Rate symptomatischer intrakranieller Blutungen, Gesamtsterblichkeit nach 90 Tagen |
Sponsor |
Firmenunabhängig |
Studienregister-Nr. |
NCT 03496064 |
Studienergebnisse
Insgesamt wurden 1932 Patienten in die Kohortenstudie aufgenommen. Dabei waren 1612 Patienten ohne Antikoagulation, 222 erhielten einen Vitamin-K-Antagonisten und 98 ein DOAK. Das mediane Alter betrug 74 Jahre und 50 % waren Frauen. Eine Vorbehandlung mit einem Vitamin-K-Antagonisten führte zu einem erhöhten Risiko für symptomatische intrakranielle Blutungen mit einem adjustierten Odds-Ratio von 2,55 (95%-Konfidenzintervall [KI] 1,35–4,84) und einer erhöhten Gesamtsterblichkeit mit einem Odds-Ratio von 1,64 (95%-KI 1,09–2,47). Es ergab sich kein Zusammenhang zwischen der vorherigen Einnahme von DOAK und dem Risiko intrakranieller Blutungen (Odds-Ratio 0,98; 95%-KI 0,29–3,35) und der Sterblichkeit (Odds-Ratio 1,35; 95%-KI 0,72–2,53). Diese Ergebnisse wurden reproduziert, wenn nur die Patienten ausgewertet wurden, bei denen Gerinnungswerte vorlagen. Die Rekanalisierungsraten waren ebenfalls bei Patienten unter DOAK höher als bei den Patienten mit Vitamin-K-Antagonisten.
Eine Metaanalyse mit 7462 Patienten, von denen 855 orale Vitamin-K-Antagonisten, 318 DOAK sowie 6289 keine Antikoagulation (Kontrollen) erhielten, ergab ähnliche Ergebnisse mit einem um 62 % erhöhten Risiko intrakranieller Blutungen bei Patienten, die mit VKA vorbehandelt waren, aber einer nicht signifikanten Erhöhung um 3 % bei Patienten, die mit DOAK vorbehandelt waren.
Kommentar
Die hier publizierte Kohortenstudie und die daraus resultierende Metaanalyse zeigten überzeugend, dass bei Patienten, die sich einer Thrombektomie unterziehen müssen, bei einer Vorbehandlung mit DOAK kein erhöhtes Risiko intrakranieller Blutungen im Vergleich zu unbehandelten Patienten besteht. Im Mittel beträgt das Risiko in dieser Patientengruppe 5 %, während es bei Patienten, die mit Vitamin-K-Antagonisten vorbehandelt sind, bei 8 bis 10 % liegt. Neben der besseren Wirksamkeit der DOAK in der Sekundärprävention des Schlaganfalls bei Patienten mit Vorhofflimmern und der um 50 % reduzierten Rate an intrazerebralen Blutungen sind die vorliegenden Ergebnisse ein weiteres wichtiges Argument, Patienten mit Vorhofflimmern mit DOAK und nicht mit Vitamin-K-Antagonisten zu behandeln. Einschränkend muss allerdings angemerkt werden, dass es sich im vorliegenden Fall um Registerstudien und nicht um eine randomisierte Studie handelt.
Quelle
Meinel TR, et al. Endovascular stroke treatment and risk of intracranial hemorrhage in anticoagulated patients. Stroke 2020;51:892–8.
Literatur
1. Goyal M, et al. Endovascular thrombectomy after large-vessel ischaemic stroke: a meta-analysis of individual patient data from five randomised trials. Lancet 2016;387:1723–31.
Arzneimitteltherapie 2020; 38(06):249-263