Spinale Muskelatrophie

Wirksamkeit von Nusinersen bei erwachsenen Patienten


Veröffentlicht am: 29.05.2020

Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

Mit einem Kommentar des Autors
In einer prospektiven Beobachtungsstudie in Deutschland zeigten sich ein gutes Sicherheitsprofil und eine klinische Wirksamkeit von Nusinersen bei der Behandlung von 139 Patienten mit spinaler Muskelatrophie vom Typ 5q bei Erwachsenen.

Die spinale Muskelatrophie vom Typ 5q ist eine autosomal-rezessiv vererbte neuromuskuläre Erkrankung, die zu einer progredienten Muskelatrophie und zu Paresen führt. Neuropathologisch liegt der Erkrankung eine Degeneration der Vorderhornzellen im Rückenmark zugrunde. Die Krankheit geht mit progredienten Paresen und bei finalem Fortschreiten mit einer Lähmung der Atemmuskulatur einher. Die Häufigkeit liegt bei etwa 1 : 11 000 Personen. Der Gendefekt für die 5q-spinale Muskelatrophie ist bekannt. Nusinersen (Spinraza®) ist ein Antisense-Oligonukleotid, das die Expression des SMN2 Gens modifiziert, so zu einer erhöhten Produktion des SMN-Proteins führt und damit die motorische Funktion verbessert. Die Wirksamkeit der Substanz wurde in zwei randomisierten Studien bei Kindern und Jugendlichen belegt [1, 2]. Die Ergebnisse dieser Studien führten zur Zulassung von Nusinersen in Europa. Es gibt bisher aber nur sehr wenige Daten zum Einsatz von Nusinersen bei Erwachsenen mit spinaler Muskelatrophie.

Studiendesign

Die Studie wurde an zehn deutschen Universitätskliniken als prospektive Kohortenstudie durchgeführt. Patienten mit genetisch nachgewiesener spinaler Muskelatrophie vom Typ 5q im Alter zwischen 16 und 65 Jahren wurden eingeschlossen.

12 mg Nusinersen wurden an den Tagen 1, 14, 28 und 63 intrathekal appliziert. Die Erhaltungstherapie erfolgte alle vier Monate.

Der primäre Endpunkt der Studie war der Hammersmith Functional Motor Scale Expanded Score (HFMSE) in den Monaten 6, 10 und 14. Der HFMSE besteht aus 33 motorischen Einzelfunktionen zur Beurteilung von Aktivitäten des täglichen Lebens. Jedes Item wird auf einer Skala von 0 bis 2 bewertet, wobei höhere Punktzahlen eine bessere Motorik anzeigen, bis zu einem Maximum von 66 Punkten. Eine Veränderung der Punktzahl um mindestens drei Punkte wird als klinisch relevante Verbesserung angesehen.

Ergebnisse

Zwischen Juli 2017 und Mai 2019 wurden 173 Patienten untersucht, von denen 139 (80 %) in das Register eingeschlossen wurden; davon 124 (89 %) in die 6-Monats-Analyse, 92 (66 %) in die 10-Monats-Analyse und 57 (41 %) in die 14-Monats-Analyse.

Die mittleren HFMSE-Scores waren im Vergleich zum Ausgangswert nach sechs Monaten signifikant erhöht (mittlerer Unterschied 1,73 Punkte (95%-Konfidenzintervall [KI] 1,05–2,41; p < 0,0001). Nach zehn Monaten betrug die Verbesserung 2,58 Punkte (95%-KI 1,76–3,39; p < 0,0001), und nach 14 Monaten 3,12 Punkte (95%-KI 2,06–4,19; p < 0,0001).

Eine klinisch bedeutsame Verbesserung (≥ 3 Punktezunahme) der HFMSE-Scores wurde bei 35 (28 %) von 124 Patienten nach sechs Monaten, bei 33 (35 %) von 92 nach zehn Monaten und bei 23 (40 %) von 57 nach 14 Monaten beobachtet.

Sicherheit

Nach 14 Monaten waren die häufigsten Nebenwirkungen Kopfschmerzen bei 61 Patienten (35 %), Rückenschmerzen bei 38 Patienten (22 %) und Übelkeit bei 19 (11 %). Es wurden keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse berichtet.

Kommentar

Nachdem die Wirksamkeit von Nusinersen bei der pädiatrischen Manifestation der spinalen Muskelatrophie nachgewiesen war, stellte sich jetzt die Frage, ob die Substanz auch bei Erwachsenen, bei denen die Krankheit sehr viel langsamer verläuft, wirksam ist. Die Beobachtungsstudie aus Deutschland schloss eine große Variation von erwachsenen Patienten ein, die zum Teil auch schwere Verläufe hatten. Nusinersen war wirksam. Üblicherweise würde man eine Verschlechterung des HFMSE-Scores im Rahmen des Fortschreitens der Krankheit erwarten. Die intrathekale Applikation von Nusinersen ist vor allem bei Patienten mit einer Skoliose eine Herausforderung, wobei die Gabe dann in der Regel durch die Neuroradiologen unter Bildgebung erfolgt. Es bleibt abzuwarten, ob die prospektiv erhobenen Registerdaten ausreichen, um auch eine Erstattung von Nusinersen bei Erwachsenen zu erreichen.

Quelle

Hagenacker T, et al. Nusinersen in adults with 5q spinal muscular atrophy: a non-interventional, multicentre, observational cohort study. Lancet Neurol 2020;19:317–25.

Literatur

1. Finkel RS, et al. Nusinersen versus sham control in infantile-onset spinal muscular atrophy. N Engl J Med 2017;377:1723–32.

2. Mercuri E, et al. Nusinersen versus sham control in later-onset spinal muscular atrophy. N Engl J Med 2018;378:625–35.

Arzneimitteltherapie 2020; 38(06):249-263