Prof. Dr. Erhard Hiller, München

Harrisons Innere Medizin, 5 Bände
Von Norbert Suttorp, Martin Möckel, Britta Siegmund und Manfred Dietel. 20. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2020. 4700 Seiten, 1800 Abbildungen. Medienkombination mit E-Book 299,99 Euro. ISBN 978-3-13-243524-7.
4500 Seiten Harrison, 479 Kapitel in vier Bänden, inzwischen die 20. Auflage! Wenn ich zurückdenke, hielt ich in den 70er-Jahren während meiner internistischen Ausbildung in den USA meinen ersten Harrison in Händen, den man ein- oder zweibändig beschaffen konnte, damals nur in englischer Fassung. Meine letzte Fassung, die 16. Auflage erschien 2005 in zwei Bänden und deutscher Übersetzung. Wenn man jetzt ungläubig auf das vierbändige Werk sieht, bekommt man eine Vorstellung über die Explosion des Wissens in einem Zeitraum von 15 Jahren. In der vorliegenden Neuauflage wurden gegenüber den vorangehenden Auflagen zahlreiche neue Kapitel eingefügt, alte überarbeitet und neu strukturiert, und wie das Probelesen einiger Kapitel zeigt, haben die deutschen Kapitelherausgeber die Kapitel absolut zeitnah bearbeitet, was Grundlagenwissenschaften und auch Molekularpathologie anbelangt. Kein Referent kann ein Lehrbuch mit 4500 Seiten lesen, und so habe ich mich als Hämato-Onkologe schwerpunktmäßig mit den Kapiteln dieses Fachgebiets mit 525 Seiten in 51 Kapiteln befasst. Man kann es nicht anders sagen, von Kapitel zu Kapitel wiederholt sich die identische Transparenz von Kapitelaufbau und -struktur mit Informationen zu den genetischen und pathophysiologischen Grundlagen sowie der modernen Molekulardiagnostik und Therapie, unter besonderer Berücksichtigung der Immuntherapien und der Immun-Checkpoint-Blockade. Die Darstellung der Therapie ist hochaktuell, speziell unter den Kriterien der evidenzbasierten Medizin. In den jeweils mit gelb unterlegten Abschnitten zur Therapie der Krankheitsentitäten wird wiederum die Darstellung der deutschen Verhältnisse bzw. Zulassungsbestimmungen farblich mit grau unterlegt. Dies führt besonders bei den therapeutischen Empfehlungen zu einer sehr gelungenen Übersichtlichkeit. Wenn man angesichts des rasanten Wissenszuwachses zuweilen mit den neuen Therapien noch ein wenig ins Schwimmen kam, lassen sich nach der Lektüre über die sogenannte „targeted therapy“, Checkpoint-Inhibitoren sowie die CAR-T-Zelltherapien Wissenslücken schließen. Versehen mit dem Wissen dieser 51 Kapitel zur Hämatologie und Onkologie müsste jeder Prüfling mühelos die entsprechende Facharztprüfung bestehen. Das Werk nennt sich Lehrbuch der Inneren Medizin, aber auch Nachbargebiete wie Neurologie und Dermatologie, Chirurgie, Urologie und Gynäkologie sind miteinbezogen bzw. Querverbindungen werden aufgezeigt. So werden auch die wichtigsten neurologischen und zum Teil auch psychiatrischen Erkrankungen abgehandelt, da ja betroffene Patienten initial oft vom Internisten gesehen werden. Entsprechende Kapitel behandeln beispielsweise die Migräne, M. Parkinson, die multiple Sklerose und auch die Alzheimer-Krankheit. In zwei Kapiteln wird zur Biologie des Alterns Stellung bezogen. Ein kleiner Wermutstropfen, was die Therapie anbelangt, ist das Fehlen von Dosierungsangaben bei einigen Erkrankungen. Es werden wohl lückenlos alle zur Behandlung geeigneten bzw. zugelassenen Medikamente aufgeführt, aber vor eine akute Situation gestellt, muss sich der Behandler zuweilen Dosisempfehlungen aus anderen Quellen besorgen. Dies gilt beispielsweise für die Behandlung der Immunthrombozytopenie (ITP) mit Eltrombopag oder Romiplostim, die Behandlung der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT), die Behandlung der CLL mit den neuen Substanzen Ibrutinib oder Venetoclax, aber auch für die Behandlung der paroxysmalen supraventrikulären Tachykardien im Kapitel 244. In vielen Kapiteln gibt es hingegen zum Teil tabellarisch übersichtlich dargestellte Therapierichtlinien mit Dosisangaben, wie für das multiple Myelom. Trotz dieses kleinen Wermutstropfens ist es für mich fast ein Wunder, dass es den Herausgebern gelungen ist, im Harrison 2020 die 300 deutschsprachigen Kapitelherausgeber, meist aus der Charité, zu koordinieren und zu motivieren, in sicher sehr kurzer Zeit die 479 Kapitel von gleichbleibender inhaltlicher Qualität zu bearbeiten.
Der vorliegende Harrison 2020 ist sicher weltweit das umfassendste Lehrbuch der Inneren Medizin und hervorragend geeignet, sich bei bestimmten Erkrankungen mit dem aktuellen Wissen zu versehen. Es ist angesichts des Umfangs nicht mehr als klassisches Lehrbuch zur Vorbereitung auf das Staatsexamen zu sehen, sondern als Nachschlagewerk gleichermaßen geeignet für internistisch tätige Ärzte im klinischen und ambulanten Bereich. Dieses ursprünglich von angloamerikanischen Wissenschaftlern herausgegebene Lehrbuch, überführt in eine deutscher Fassung und adaptiert auf deutsche Verhältnisse, ist aufgrund der gebündelten Struktur eine Informationsquelle höchster Qualität, die nach Ansicht des Referenten den Wissenserkenntnissen, die man heute aus dem Internet ziehen kann, eindeutig vorzuziehen ist.
Arzneimitteltherapie 2020; 38(11):454-455