Volker Limmroth, Köln
Multiple Sklerose ist heute eine gut behandelbare Erkrankung, die ihren Schrecken zu Recht verliert. Dank großer Fortschritte im Verständnis der Pathoimmunologie sowie der Entwicklung neuer innovativer Immuntherapien können sich insbesondere Patienten, die neu an der schubförmigen Verlaufsform erkranken, berechtigte Hoffnung auf ein weitgehend normales Leben machen.
Neben der schubförmigen Verlaufsform (relapsing remitting MS = RRMS) gibt es noch die progredienten Verlaufsformen, deren Pathomechanismen weniger gut verstanden sind. Darüber hinaus ist es nicht trivial, die klinische Progression standardisiert über Jahre zu quantifizieren, da neben motorischen Symptomen individuell unterschiedlich Sensibilität, Kognition, Funktionen des Urogenitaltrakts und vieles mehr betroffen sein kann. Das macht klinische Studien zur Behandlung der progredienten Verlaufsformen zu einer Herausforderung, an der bereits einige Arzneimittelhersteller gescheitert sind.
Eine dieser progredienten Verlaufsformen ist die sekundär chronisch progrediente Verlaufsform (SPMS), die sich bei Patienten mit zunächst schubförmiger Verlaufsform nach einigen Jahren entwickeln kann. Da die Quantifizierung der Progression über längere Zeiträume schwierig sein kann, ist auch der Zeitpunkt des Beginns einer SPMS oft nicht eindeutig. Die Gruppe der Patienten mit einer SPMS ist daher keine homogene Gruppe, sondern recht unterschiedlich mit einem zu Beginn hohen Anteil von chronisch inflammatorischen Mechanismen und im späteren Verlauf eher neurodegenerativen Mechanismen, die weniger gut beinflussbar sind.
Siponimod ist ein selektiver Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator (S1P-Modulator) und hemmt – wie auch Fingolimod – Lymphozyten am Austreten aus dem lymphatischen Gewebe ins periphere Blutsystem. Siponimod ist damit dem Fingolimod sehr ähnlich, das bereits 2011 für die Behandlung der RRMS zugelassen wurde. Es bindet selektiver an die Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Gruppe und soll damit theoretisch besser wirken und weniger Nebenwirkungen haben. In einer klinischen Studie zur Veränderung der Lymphozyten-Untergruppen im peripheren Blut von Patienten aus der Zulassungsstudie konnte eindrücklich gezeigt werden, dass nicht nur CD4+- und CD8+-Zellen, sondern auch B-Zellen stark unterdrückt werden [2]. Das ist insofern von Bedeutung, als dass insbesondere den B-Zellen möglicherweise eine besondere Bedeutung bei der Chronifizierung inflammatorischer Mechanismen zukommt. Darüber hinaus konnte in Tiermodellen ein gewisser neuroprotektiver Effekt gezeigt werden, der beim Menschen aber schwer nachweisbar sein wird.
In der Zulassungsstudie (EXPAND-Studie, Abb. 1) reduzierte Siponimod die Progredienz im Vergleich zu Placebo um 24 bis 26 %. Das klingt – realistisch betrachtet – nicht nach einem Durchbruch, ist aber besser als nichts und ein Schritt in die richtige Richtung. Der eigentliche Verdienst der EXPAND-Studie ist weniger im Umfang der klinischen Effekte zu sehen, sondern in der Standardisierung von Instrumenten zur Quantifizierung der klinischen Progression. EXPAND ist damit hoffentlich der Startschuss für die klinische Evaluation innovativer Ansätze zur Behandlung der SPMS, die langwierig und vor allem teuer ist.

Abb. 1. Risiko einer bestätigten Behinderungsprogression nach 6 Monaten (mod. nach [1])
Klinisch ist die Substanz gut verträglich und wird zur Vermeidung von bradykardisierenden Effekten bei der Eindosierung (anders als Fingolimod) in der ersten Woche auftitriert. Das geschieht unauffällig durch eine Starter-Packung in der ersten Woche, danach erhalten die Patienten ihre individuelle Standard-Dosis. Individuelle Standard-Dosis? Ja, Siponimod kommt mit noch einer Besonderheit: Da es über das Cytochrom-P450-System (überwiegend CYP2C9) verstoffwechselt wird und es einen Polymorphismus mit sechs Genotypen im CYP2C9-Gen gibt, muss vor der Ersteinstellung eine genetische Bestimmung des jeweiligen individuellen Genotyps vorgenommen werden. Dabei bekommen die Schnell- und Intermediär-Verstoffwechsler 2 mg als Dauerdosis und die schwachen Metabolisierer 1 mg Siponimod. Für homozygote Schwach-Metabolisierer ist die Gabe sogar kontraindiziert. Das ist eine neue Dimension der Individualisierung eines Medikaments, aber ebenfalls der richtige Weg in die individualisierte Medizin des 21. Jahrhunderts.
Welchen Patienten wird Siponimod besonders gut helfen?
mit aktiver Erkrankung, die durch Schübe oder Merkmale entzündlicher Aktivität in der Bildgebung nachgewiesen wurde. Das sind die Patienten, die noch Zeichen inflammatorischer Aktivität aufweisen, also eher in der frühen Phase der SPMS sind. Das ist wahrscheinlich auch sinnvoll, denn in den Subgruppen-Analysen der EXPAND-Studie war gut erkennbar, dass der klinische Effekt mit der Dauer der Erkrankung abnimmt. Die Entscheidung, ob ein Patient mit Siponimod behandelt werden soll, sollte also eher früh fallen, bleibt aber eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung. Zusammenfassend ist Siponimod eine willkommene Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten bei der Behandlung der SPMS, auch wenn bei der Behandlung dieser Patienten-Gruppe noch viel Luft nach oben ist.

[Foto: privat]
Prof. Dr. med. Volker Limmroth ist Chefarzt an der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin Köln-Merheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind neuroimmunologische Erkrankungen, Schmerzerkrankungen und Schlaganfälle. Er war für knapp 10 Jahre Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Kliniken der Stadt Köln und ist Herausgeber von über 25 Büchern und Autor von mehr als 250 wissenschaftlichen Publikationen.
Interessenkonflikterklärung
VL gibt an, dass keine Interessenkonflikte in Bezug auf Siponimod bestehen.
Literatur
1. Kappos L Bar-Or A, Cree BAC, Fox RJ, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet 2018;391:1263-73. doi: 10.1016/S0140-6736(18)30475-6.
2. Wu Q, Mills EA, Wang Q, Dowling CA, et al. Siponimod enriches regulatory T and B lymphocytes in secondary progressive multiple sclerosis.JCI Insight 2020;5:e134251.doi: 10.1172/jci.insight.134251.
Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Klinik für Neurologie und Palliativmedizin, Klinikum Köln-Merheim, Ostmerheimer Straße 200, 51109 Köln, E-Mail: Limmrothv@kliniken-koeln.de
Siponimod in the therapy of secondary chronic progressive MS
Thanks to advances in understanding pathoimmunology and in the development of innovative immunotherapies, patients with multiple sclerosis can hope for a relatively normal life nowadays. An extension of the therapeutic possibilities in the treatment of secondary progressive multiple sclerosis (SPMS) is Siponimod, a selective sphingosine-1-phosphate receptor modulator. It was approved in the EU for the treatment of adults with SPMS with active disease.
Key Words: siponimod, multiple sclerosis, secondary progressive multiple sclerosis, sphingosin-1-phosphat-receptor-modulator
Arzneimitteltherapie 2020; 38(11):466-467